Die Feuerkämpferin 01 - Im Bann der Wächter
bloßer Mutmaßungen hast du mich hier wie einen Verbrecher eingesperrt und sogar foltern lassen.«
Ein kurzes, lastendes Schweigen, dann fuhr San fort.
»Schon interessant, wie du plötzlich dein anderes Gesicht zeigst. Dabei dachte ich, dein Vater hätte dich Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit gelehrt. Ich war überzeugt, du sähest lieber einen Verbrecher auf freiem Fuß als einen Unschuldigen hinter Gittern. Zwei Tage Schweigen von meiner Seite genügen, und schon bricht dein eigener hoher Anspruch, was Recht und Gerechtigkeit angeht, wie ein Kartenhaus zusammen und offenbart sich als das, was er ist: pure Heuchelei. Wie kommst du damit zurecht, wenn du abends vor dem Einschlafen wach im Bett liegst? Wenn du an deine braven Untertanen denkst oder an deinen Vater, der fünfzig Jahre lang dieses Königreich regierte, ohne sich je eines Unrechts schuldig zu machen oder seinen niederen Trieben nachzugeben?«
Neors knirschte mit den Zähnen.
»Du sagst ja gar nichts. Dich zu rechtfertigen, interessiert dich wohl nicht.«
»Ich will die Wahrheit«, zischte der neue Souverän.
San lehnte sich an die Wand zurück. Sein spöttisches Gebaren nährte nur Neors Hass.
»Nein, was du willst, ist Rache«, fuhr San fort. »Du glaubst
dich im Recht, weil du von der Richtigkeit deiner Vermutungen überzeugt bist, und es zerreißt dich innerlich, dass du mir keine Schuld nachweisen kannst. Du willst mich büßen lassen, egal wie. So sieht es aus!«
Wie gern wäre Neor aufgesprungen aus dem Stuhl, an den er gefesselt war, um diesem Mann an den Hals zu gehen, ihn mit bloßen Händen zu bestrafen, ihm das Maul zu stopfen, damit er nicht weiter Gift versprühen konnte.
»Leider hat dein Vater Regeln aufgestellt, und danach ist Foltern nicht erlaubt.«
»Niemand hat dich gefoltert.«
»Und was ist das hier?«, fragte San, indem er mit hochgezogener Schulter auf den Bluterguss neben dem Auge deutete. »Und das hier?«, er schob seine geschwollene Lippe vor. »Willst du mir weismachen, einem deiner Wächter sei nur die Hand ausgerutscht?«
Neor wurde unbehaglich zumute.
»Nein, auch wenn du mir auf diese Art ein Geständnis entreißt, es bringt dich nicht weiter. Wenn ich vor Gericht erkläre, wie meine Aussage zustande kam, wird mich kein Richter schuldig sprechen. Nein, Neor, auf diese Weise zwingst du mich nicht in die Knie.« San lächelte wieder. Ein triumphierendes Lächeln.
Der König erschrak fast. »Wer zum Teufel bist du?«
San beugte sich vor. »Ich bin der Vorbote einer neuen Zeit. Ich bin die Zukunft. Ich stehe für eine neue Menschenrasse und gleichzeitig für das Angedenken der Aufgetauchten Welt.« Er lehnte sich wieder ganz gelassen zurück.
»Bist du wirklich San? Bist du wirklich der, den mein Vater in jungen Jahren kannte?«
»Gewiss bin ich das. Nur war ich, als dein Vater mich kennenlernte, mir meiner wahren Natur noch nicht bewusst. Doch im Lauf der Jahre habe ich vieles erkannt und gelernt.«
»Warum bist du zurückgekommen? Und warum gerade jetzt?«
»Ich hatte eine Mission zu erfüllen.«
»Was für eine Mission?«
San kicherte. »Jetzt bist du aber wirklich zu neugierig.«
Neor war ratlos. Er schaffte es nicht, dem Gespräch einem ihm genehmen Verlauf zu geben. Nein, dieser Mann war es, der die Fäden in der Hand hielt. Wie hatten sie nur auf ihn hereinfallen, ihn im Palast aufnehmen und ihm die höchsten Ehren erweisen können, ohne seine schwarze Seele zu erkennen?
»Und hast du sie erfüllt?«
San betrachtete ihn lange. »Hätte ich sie nicht erfüllt, würde ich jetzt nicht hier sitzen und mit dir sprechen.«
Neors Stimme bebte: »Du solltest ihn umbringen, nicht wahr? Von Anfang an war es dein Ziel, meinen Vater zu töten. Mira stand dir nur im Weg, weil er irgendetwas herausgefunden hatte. Deshalb hast du ihn beiseiteräumen lassen. So sieht es aus. Das ist die Wahrheit …«
San lachte aus vollem Hals und hörte erst auf, als seine Lippe wieder zu bluten begann. »Die Wahrheit … Schon unglaublich, wie oft Leute deines Schlages dieses Wort in den Mund nehmen, so als sei Wahrheit das, worauf es ankomme in der Welt. Aber die Wahrheit macht nicht frei, wie viele törichterweise denken. Die Wahrheit ist ein Käfig, die Wahrheit engt uns ein, legt uns fest, macht uns auf ewig zu Gefangenen.«
»Deine Wahnvorstellungen interessieren mich nicht«, schrie Neor, wobei er sich vorlehnte. »Hast du ihn getötet oder nicht?«
San nahm es sich heraus, den König lange voller Hochmut
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