Die Feuerkämpferin 02 - Tochter des Blutes
wenigstens warten, bis die Nacht hereinbricht.«
An jeder Leiche war ein Schild befestigt. Darauf stand mit krakeliger, fast unleserlicher Handschrift etwas geschrieben, wahrscheinlich der Grund für die Hinrichtung. Adhara gelang es, eines zu entziffern: VERLEUMDUNG DES RATS DER WEISEN.
Von diesem Rat hatte sie noch nie gehört. Der musste nach ihrem Fortgang aus der Stadt gegründet worden sein. Über dem Haupttor war immer der Name der Stadt zu lesen gewesen, eingraviert in eine breite Tafel aus rosafarbenem Marmor. Nun lag diese Platte zerbrochen am Boden und war durch ein Holzschild ersetzt worden, auf dem ein anderer Name stand: NEUSTADT.
Adrass und Adhara nahmen ein kärgliches Mahl zu sich, und als der Mond aufgegangen war, machten sie sich wieder auf den Weg. Zunächst liefen sie ein Stück an der Stadtmauer entlang. Zwar sahen sie keine Wachen, doch überall waren die Tore fest verriegelt. Allerdings waren hier und dort auch Breschen im Mauerwerk. Es schien sich um Durchlässe zu handeln, die man aus irgendwelchen Gründen in den Stein geschlagen hatte.
Bei einer etwas breiteren Lücke blieben sie stehen.
»Ich gehe voran.« Adhara bückte sich, ohne auf Adrass’ Zustimmung zu warten, und zwängte sich hinein. Nur auf dem Bauch robbend, während Hände und Füße im Schlamm Halt suchten, kam sie vorwärts. Sie wusste, dass die Stadtmauer mindestens acht, neun Ellen breit war, und musste bald gegen ein Erstickungsgefühl ankämpfen, das sie zu befallen drohte. Irgendwann kam sie nicht mehr weiter. Ein Hindernis blockierte den Durchgang.
»Was ist los?«, rief Adrass, der noch draußen stand.
»Der Weg ist versperrt.«
»Lass mich mal machen«, forderte er sie auf.
Sie ließ ihn vorbei, und er kroch hinein. Nur langsam kam er vorwärts, weil er noch kräftiger gebaut war als sie, und schien fortwährend irgendwo anzustoßen. Doch nach einer Weile erkannte Adhara ein schwaches Licht am Ende des Durchschlupfs und hörte Adrass’ gedämpfte Stimme, die sie aufforderte, nachzukommen. Das tat sie, und als sie auf der anderen Seite hinausschlüpfte, spürte sie, wie ihr ein kühler Wind über das Gesicht strich.
»Ein wenig Magie kann nie schaden«, erklärte Adrass lächelnd, der mit dem Rücken an der Innenseite der Stadtmauer lehnte. Sie waren drinnen.
Eine unheimliche Stille umgab sie, die nur vom Rauschen des Windes unterbrochen wurde. Zudem fiel ihnen auf, dass keines der Fenster um sie herum erhellt war. Die Stadt wirkte wie ausgestorben.
»Vielleicht sind alle geflohen. Oder tot«, bemerkte Adhara.
»Nein, irgendjemand muss ja das Tor von innen verschlossen haben. Und außerdem, denk doch mal an die zur Schau gestellten Leichen. Manche sahen so aus, als seien sie gerade erst hingerichtet worden.«
Vorsichtig blickten sie sich um, die Hände an den Waffen, und schlichen voran. Kaum waren sie in eine Seitenstraße eingebogen, stießen sie auf die ersten Leichen. Man hatte sie einfach draußen auf der Straße liegen lassen, anscheinend Opfer der Seuche. Auf dem Boden erkannten sie geronnenes Blut, und die Körper waren mit schwarzen Flecken übersät.
Adhara zog Adrass am Arm von ihnen fort. »Halt dich fern von ihnen, du bist doch nicht immun«, sagte sie. »Weißt du eigentlich, welche Richtung wir einschlagen müssen?«
Adrass nickte und trat einige Schritte zurück. Er wirkte mitgenommen. Allerdings musste auch Adhara allen Mut zusammennehmen, um dem Drang zu widerstehen, auf der Stelle kehrtzumachen und davonzulaufen.
»Dann weiter.«
So durchquerten sie das Gassenlabyrinth der Stadt. Überall an den Häuserwänden waren Bekanntmachungen angeschlagen, in schwarzer Farbe auf Papierbögen geschrieben, die sich bei genauerem Hinsehen als Buchseiten entpuppten, die man offenbar aus antiken Folianten gerissen hatte.
VERLASSEN DER HÄUSER NACH SONNENUNTERGANG VERBOTEN!
SOFORT ÖFFNEN, WENN EIN HÜTER DER WEISHEIT ANKLOPFT!
TODESSTRAFE FÜR ALLE, DIE DEN TÄGLICHEN WEGZOLL NICHT ENTRICHTEN!
Versonnen strich Adrass mit den Fingern über eine solche Seite.
»Komm schon, wir haben keine Zeit, uns darum zu kümmern«, riss Adhara ihn aus seinen Gedanken.
Er schaute sie aus glasigen Augen an. »Davon verstehst du nichts … Das ist ein Text aus einem uralten Zauberbuch. Hier, sieh mal. Ein grundlegendes Werk für unsere Wissenschaft. Das ist bestimmt fünfhundert Jahre alt! Schau, man kann es sogar noch lesen: Gelobt sei Shevrar …« Und damit streichelte er wieder über das Papier,
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