Die fiese Meerjungfrau
Schiff herab; Lirea hörte Rufe, und dann klatschte ein komisches Gebilde neben ihr ins Wasser. Sie vermutete, dass es sich um eine Art Rettungsring handelte: Kork, der ringförmig eine Scheibe aus Holz umgab. Ein Seil war an einer Eisenöse in der Mitte befestigt. Nachdem sie die Vorrichtung studiert hatte, ergriff sie das Seil und zog sich auf die Holzscheibe wie auf einen Menschenhocker. Mit der anderen Hand verhinderte sie, dass sie gegen den Rumpf prallte, als man sie an Bord zog.
Zwei Männer starrten sie an. Zuerst dachte Lirea, man könnte noch welche von ihren Schuppen sehen, aber dann fiel ihr wieder ein, dass Nacktheit für Menschen ein Tabu war.
»Was ist dir zugestoßen?«, fragte der eine.
Lirea schlang die Arme um sich und versuchte, ihren Körper zu bedecken, wie es eine Menschenfrau vielleicht getan hätte. Sie humpelte an ihnen vorbei und brachte dabei die Kajüte zwischen sich und die anderen Schiffe. »Ich will nicht darüber reden.« Eine Aussage, die nur zu wahr war.
»Geoffrey, besorg dem Mädchen eine Decke!«, sagte der mit den zerzausten Haaren, welcher der Ältere von beiden zu sein schien, während er das an der Schwimmvorrichtung befestigte Tau in Ringen übereinanderlegte.
Geoffreys Blicke verweilten noch einen Moment länger auf Lirea, dann drehte er sich weg. Lirea wartete, bis er mit eingezogenem Kopf in der Kajüte verschwand, und bewegte sich dann auf den anderen Mann zu. »Lass mich dir helfen!«
»Nicht nötig. Du hast genug durchgemacht.«
Lirea nahm das Tau trotzdem. Er setzte zu einem Protest an, aber Lirea schlang das Tau um seinen Hals und zog zu.
Das Krachen von Knochen lockte Geoffrey aus der Kajüte. Er stierte Lirea und den reglos daliegenden Körper seines Freundes an.
Lirea zertrümmerte den Schwimmring auf seinem Kopf. Er stürzte zu Boden, in den Händen noch immer eine zerknüllte Decke.
Das Schiff wog sich im Wind. Irgendwo vor dem Hafen wartete unter den Wellen eine kleine Schar Undinen auf Lirea. Lirea hätte sie ja mit den Übrigen weggeschickt, um den Krieg mit den Menschen zu beginnen, doch Nilliar hatte darauf bestanden, dass sie ihre Königin eskortierten.
Sie konnten Lirea jetzt nicht helfen. Auch wenn Lannadae eine Verräterin sein mochte, so war sie doch immer noch königlichen Blutes: Keine einschwänzige Undine würde es wagen, sie zu töten. Es war Lireas Sache, ihre Schwester aufzuspüren und zu bestrafen.
Sie hätte das Schiff der Menschenkönigin angreifen, versenken und alle ertrinken lassen sollen, aber der Schreck über die Raserei des Messers war zu viel gewesen. Bis Lirea sich davon erholt hatte, waren die Menschen schon geflohen.
Vielleicht war es am besten so. Die Menschenkönigin war Lireas einzige Hoffnung gewesen, Lannadae zu finden, und nun war sie tot. Sollten die Überlebenden die Warnung ruhig zurück zu ihrem König tragen - wenn ihre Schiffe zu verschwinden begännen, würden sie sich an Lireas Preis für eine sichere Überfahrt erinnern.
Regentropfen benetzten ihre Haut, als sie den Schwimmring zurück ins Wasser ließ und herunterkletterte, um ihr Messer wieder an sich zu nehmen. Zurück auf dem Schiff, kniete sie sich hin, um Geoffrey die Kleider auszuziehen. Beide Männer waren größer als sie, aber es würde gehen. Sie zog sich das weite Hemd über den Kopf und kürzte anschließend mithilfe eines Abschuppmessers des älteren Mannes die Ärmel; ähnliche Änderungen nahm sie an der Hose vor. Danach setzte sie sich hin, massierte sich die Beine und versuchte, die ärgsten Schmerzen in den Muskeln loszuwerden.
Sie durchsuchte den Rest des Schiffes, fand jedoch keine weitere Besatzung vor. Da die Kajüte sie vor Blicken von den anderen Schiffen abschirmte, schien niemand sonst ihre Anwesenheit bemerkt zu haben.
Sie schleifte den Körper des stöhnenden Geoffrey nach unten. Falls irgendwer Gerüchte über eine Meerjungfrau, die an der Küste Lorindars lebte, gehört hatte, dann sicher ein Seemann. Und falls es nicht dieser hier war, so gab es jede Menge anderer, mit denen man sich unterhalten konnte.
Einmal war Lannadae Lirea entkommen - ein zweites Mal würde ihr das nicht gelingen.
Kapitel 3
In den Jahren, seit Schnee aus ihrem Land geflohen war, hatte sie Lorindar nie ganz als ihre Heimat akzeptieren können. Der nicht enden wollende Regen, der Nebel, der sich jeden Morgen vom Meer hereinwälzte und die Luft abkühlte, das Geschrei der Möwen ... Und wenn sie gewusst hätte, wie oft sie gezwungen sein würde,
Weitere Kostenlose Bücher