Die fiese Meerjungfrau
Morveren Dutzende solcher Krüge, nicht mitgezählt diejenigen, die sich möglicherweise noch in anderen Teilen des Schiffes befanden. Ein Frachter dieser Größe konnte es leicht auf eine Besatzung von einhundert Mann bringen.
»Die Seelenkrüge halten sie davon ab, Unfug zu machen, bis sie irgendwann bereit sind, weiterzuziehen«, erklärte Morveren. »Diese Zauber sind die Grundlage für das Messer, das ich für Lirea angefertigt habe.«
»Enthalten all diese Krüge gefangene Seelen?«
Morveren lachte. »Nicht alle. In manchen sind Zutaten für unterschiedlichste Zauber; der Inhalt anderer ist mehr profanerer Natur.« Sie nahm einen Tonkrug und bot ihn Schnee an. »Getrocknete Schnecken. Sie sind köstlich!«
»Nein, danke.« Schnee betrachtete immer noch den Seelenkrug. Sie konnte Stückchen von Haaren oder Bindfäden erkennen, die ins Wachs gedrückt waren. »Woher weißt du, wann die Seelen bereit sind, weiterzuziehen?«
»So viele Fragen.« Morveren zog eine Metalltruhe hinter dem Vorhang hervor. »Ich verspreche dir, dass ich dir beibringen werde, was ich kann. Aber nicht hier. Deine Freundinnen warten, und du willst doch nicht so tief unter der Oberfläche festsitzen, wenn dein Zauber sich abnutzt.«
»Was ist da drin?«, wollte Schnee wissen und zeigte auf die Truhe. Als Morveren sich umdrehte, schnappte Schnee sich einen anderen Seelenkrug und steckte ihn unter die Vorderseite ihres Hemds. Der Krug drückte unangenehm gegen ihre Brust, aber das zusätzliche Fett ihrer Meerjungfrauengestalt sorgte für eine gewisse Polsterung.
»Erinnerungen.« Morveren strich mit dem Finger über das zernarbte Metall, dann öffnete sie den Deckel. Sie nahm eine kleine Halskette aus gelben und grünen Steinen heraus. »Das hier hat Lannadae gehört. Ich habe es für sie gemacht, als sie geboren wurde, aber sie hat immer versucht, es runterzuschlucken.«
Sie schlang die Kette um ihr Handgelenk. Als Nächstes holte sie ein kleines Püppchen heraus. Der obere Rumpf schien aus geflochtenem Seegras zu bestehen; der untere Teil war mit winzigen lila Schuppen bedeckt und endete in einer dünnen Muschelschale, die in Form einer Schwanzflosse geschnitzt war. »Das waren die ersten Schuppen, die Lirea abgeworfen hat. Ihre Mutter sammelte sie, und ich nähte sie in diese Puppe. Babyschuppen sind viel weicher und lassen sich viel leichter verarbeiten.«
»Es sieht aus, als fehlt ihr der Kopf«, bemerkte Schnee.
»Meine Nähkunst war kein Gegner für Lireas Zahnen. Ich bin nie dazu gekommen, sie zu reparieren.« Lächelnd schloss Morveren die Kiste. »Sie war so ein süßes Kind! So liebevoll, mit so viel Potenzial! In ihrer Stimme lag eine unglaubliche Macht. Ich fürchte, sie hat diese Gabe ausgenutzt. Ihre Eltern verzogen sie schamlos; sogar mir fiel es schwer, ihr zu widerstehen.«
»Hast du ihr jemals etwas übers Zaubern beigebracht?«, erkundigte sich Schnee.
»Ich habe es versucht.« Morveren hielt die Puppe vor den Mund und zog mit den Zähnen einen losen Faden fest. »Lirea hatte Talent, mehr noch als ihre Schwestern, aber ihr fehlte das Verlangen. Zauberei erfordert mehr als bloße Geschicklichkeit - sie erfordert Liebe. Ich hoffte, sie besinne sich eines anderen, wenn sie älter würde. Es gab so vieles, was ich weitergeben wollte.«
»Ich wünschte, meine Mutter hätte genauso empfunden. Sie hätte mich umgebracht, wenn sie gewusst hätte, dass ich heimlich aus ihren Zauberbüchern lernte.« Es gab Momente, in denen Schnee sich fragte, ob es gerade diese Entdeckung gewesen war, die ursprünglich dazu geführt hatte, dass ihre Mutter ihr nach dem Leben trachtete. Die Geschichten behaupteten, sie sei eifersüchtig auf Schnees Schönheit gewesen, und das war auch sicher wahr. Aber hatte die Eifersucht auf die Macht ihrer Tochter womöglich eine noch größere Rolle gespielt?
»Sie wollte nicht, dass du etwas lernst?« Morveren klang überrascht.
»Meine Mutter teilte nicht gerne.« Schnee schob diese Erinnerungen von sich und streckte die Hand aus, um die Puppe zu berühren. »Wenn das Lireas Schuppen sind, dann müssten wir sie doch benutzen können, um sie zu finden!«
»Ganz richtig.« Morveren ließ die Puppe los. Die geschnitzte Flosse ließ sie durchs Wasser auf den Boden trudeln. »Aber die Schuppen sind alt, und die Verbindung ist schwach.«
»Blut erschafft falsches Leben«, grübelte Schnee. »Das sollte die Verbindung lange genug stärken, dass wir unseren Zauber wirken können.«
»Sehr gut!«
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