Die fiese Meerjungfrau
Morveren bedeutete ihr, fortzufahren.
Schnee zögerte. »Normalerweise würde ich meine Spiegel benutzen, um -«
»Keine Spiegel!« Morveren riss Schnees Hand vom Halsband weg. »Du bist zu stark für derartige Abkürzungen.«
Schnee wurde warm im Gesicht. »Danke.«
Morveren drückte ihre Hand. »Ich danke dir, Kind.«
Kapitel 8
Danielle hatte ihr Armband ausgezogen und hielt den kleinen Spiegel zärtlich in beiden Händen. Sie saß mit dem Rücken zur Öllampe, sodass die Flamme im Spiegel nicht zu sehen war. »Weiß Nicolette, dass du noch wach bist?«
Jakobs Antwort war klar, selbstsicher und überhaupt nicht hilfreich. »Mama!«
»Das stimmt.« Danielle lächelte. Schnees Magie ermöglichte es ihr, Jakob deutlich zu sehen, sogar in der Dunkelheit.
»Tala?«, fragte Jakob und beugte sich vor, bis sein Gesicht gegen das Kinderbett gepresst war. Er hatte angefangen, nach Talia zu suchen, sobald er erkannte, dass Danielle da war. Schnee hatte immer noch nicht herausgefunden, wie er durch den Spiegel sehen konnte. Danielle wollte sie unbedingt das Armband noch einmal untersuchen lassen, um festzustellen, ob das ein Trick des Spiegels war oder ob es etwas mit Jakob selbst zu tun hatte. Aber Schnee brachte weiterhin ihre ganze Zeit mit Morveren zu.
Nachdem sie der kleinen Meerjungfrauenpuppe den letzten Tag lang gefolgt waren, glaubten Schnee und Morveren jetzt, dass Lirea sich an der Nordküste Hilads versteckte. Nicht der sicherste Ort, um mit der Phillipa hinzusegeln, aber das nördliche Hilad war größtenteils unbewohnt und Hephyra zuversichtlich, dass sie das Schiff herein- und wieder herausbringen konnte, ohne gesehen zu werden.
Sie waren früher an diesem Abend in hiladische Gewässer eingedrungen. Wie Kapitän Hephyra einen Flecken Ozean vom anderen unterscheiden konnte, ging über Danielles Horizont.
»Tala«, sagte Jakob und stellte sich in seinem Bettchen auf. »Tala!«
»Geh schlafen, kleiner Prinz.« Seine verschwitzten Haarspitzen sagten ihr, dass er schon eine Zeit lang geschlafen haben musste, bevor er aufgewacht war. Danielle hoffte, dass nicht sie es gewesen war, die ihn aufgeweckt hatte, indem sie durch den Spiegel guckte.
»Nein. Tala jetzt, jetzt, jetzt!«
Die Kajütentür ging auf, und Talia schaute hinein. »Kapitän Hephyra sagt, du hast mich gesucht?«
»Tala!« Entzücken leuchtete in Jakobs Augen auf.
»Ja, danke.« Danielle reichte Talia den Spiegel. »Er hat nach dir gefragt.«
Talias dunkle Haut verbarg fast ihr Erröten. Sie warf einen Blick in den Spiegel. »Es ist schon spät, Jakobena. Du solltest schlafen.«
»Jakobena?«, fragte Danielle.
»Das bedeutet ›winziger Jakob‹«. Talia machte Miene, Danielle den Spiegel zurückzugeben, aber Jakob fing wieder an zu schreien.
»Was will er?«
»Ich denke, er will, dass ich ... ihm etwas vorsinge.« Ihr funkelnder Blick riet Danielle, ja nicht zu lächeln.
Ein Jahr Ausbildung in Hofetikette half Danielle, ihre Miene im Zaum zu halten. »Ich glaube nicht, dass ich dich schon mal singen gehört habe.« Die unausgesprochene Frage hing zwischen ihnen in der Luft.
»Manchmal statte ich dem Kinderzimmer nachts einen Besuch ab«, gestand Talia. »Dort habe ich Platz, um ungestört zu trainieren, und ich bin so leise, dass ich ihn damit nicht wecke.«
Das kaufte Danielle ihr nicht ab. »Die Waffenkammer ist groß genug, um darin
zu üben, ebenso die große Halle oder eins der Gästezimmer in den Südtürmen oder -«
Nur Talia konnte aus einem Achselzucken eine Drohung werden lassen. »Wenn man sich vor Augen hält, wie leicht deine Stiefschwester dich letztes Jahr in deinem Zimmer angreifen konnte, dann finde ich, du solltest froh darüber sein, wenn jemand auf deinen Sohn aufpasst.«
»Auf ihn aufpasst ... durch Vorsingen?«, neckte Danielle sie.
Erneutes Achselzucken. »Manchmal träumt er schlecht.«
»Tala, Tala, Tala!« Jakobs Stimme wurde mit jeder Wiederholung lauter; bald würde er so laut schreien, dass Nicolette angerannt käme.
»Ich bin hier, Jakobena.« Talia bedachte Danielle mit einem letzten finsteren Blick, dann drehte sie sich um. Sie hielt den Spiegel dicht an ihre Lippen und begann zu singen. Ihre Stimme war tief und klar, jede Note saß perfekt.
»Der Silbermond zieht durch den Himmel,
Fragt dich, ob du gern spielen willst.
Verschlief den Tag im Wolkengewimmel,
hätt' gern, dass du jetzt mit ihm spielst.
So schließ die Augen, kleines Kind,
Und fliege mit dem Mond geschwind!
Silbermond
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