Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
von Blut zu hören. Blut und Kot
waren angesagt. Blut, Kot und Sperma. Hephzibah hatte bereits einige mit Blut und Scheiße geschriebene Briefe erhalten.
»Ich habe dir noch nicht alles erzählt.«
»Dann erzähl.«
»Es war Schinkenspeck.«
»Was?«
»Es war Schinkenspeck. Sie – ich nehme an, dass es mehrere waren – haben Schinkenspeckscheiben um die Türgriffe gewickelt. Zwei, drei Päckchen, die haben sich das richtig was kosten lassen.«
Wieder schien sie dem Weinen nahe.
Er ging zu ihr, diesmal fest entschlossen. »Ist ja widerlich«, sagte er. »Wie schrecklich.«
Sie schüttelte sich hinter vorgehaltenen Händen.
Er nahm sie in die Arme. »Herrgott noch mal«, sagte er. »Was sind das für Leute? Am liebsten würde ich sie umbringen.«
Erst jetzt merkte er, dass sie lachte.
»Ist doch nur Schinkenspeck«, sagte sie.
»Nur Schinkenspeck?«
»Ich will damit nicht behaupten, dass es nett ist. Nein, du hast völlig recht, es ist widerlich, aber auch eine so klägliche Geste. Was glauben die denn, was wir jetzt tun? Alles einpacken und nach Hause gehen? Den Umbau wegen ein paar Speckscheiben einstellen? Das Gebäude verkaufen? Das Land verlassen? Wie absurd. Man muss auch die komische Seite sehen.«
Treslove gab sich Mühe. »Wahrscheinlich muss man das«, sagte er. »Ja, du hast recht. Es ist zum Lachen.« Und er versuchte, in ihr Gelächter einzustimmen.
Hephzibah trocknete sich die Tränen. »Andererseits«, sagte sie, »beginnt man sich zu wundern, was da draußen eigentlich los ist. Liest man so etwas über Berlin in den zwanziger Jahren, fragt man sich, warum sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt und das Land verlassen haben.«
»Vielleicht, weil sie nie so richtig glauben konnten, dass es ernst gemeint war«, erwiderte Treslove. »Vielleicht, weil sie versucht haben, die komische Seite daran zu sehen.«
Er war wieder ernst geworden.
Hephzibah seufzte. »Und das ausgerechnet in St. John’s Wood.«
»Man ist nirgendwo mehr sicher«, sagte Treslove und dachte daran, was ihm angetan worden war, unmittelbar vor den Türen der BBC.
Du Jud.
Sie verstummten beide, während in ihren Gedanken Horden von Antisemiten marodierend durch Londons West End zogen.
Dann musste Hephzibah wieder lachen. Sie dachte an die sorgsam um Widdergriffe gewickelten Speckscheiben und die in Schlüssellöcher gestopften Klumpen Fleisch und Fett, von denen sie noch gar nichts erzählt hatte. Sie stellte sich die Vandalen vor, wie sie zu Marks & Spencer gingen, alles Nötige einkauften und an der Kasse noch ihre Bonuskarte vorlegten, um dann wie Bürgerwehrler, wie mit Schinkenspeck bewaffnete Vigilanten, die schlimmste aller Schändungen zu begehen, die sie nur ersinnen konnten, und über das Museum für anglo-jüdische Kultur herzufallen, auf das noch keine Schilder hinwiesen, weshalb es streng genommen eigentlich noch gar nicht existierte.
»Sie überschätzen einfach unsere Abscheu vor Schweinefleisch«, sagte sie und wischte sich die Augen. »Die haben bestimmt keine Ahnung, wie gern ich ein Sandwich mit Schinkenspeck esse. Aber darum geht es eigentlich nicht. Es geht um ihre völlig überzogene Vorstellung unserer Präsenz. Sie finden uns, noch ehe wir uns selber finden. Man ist nirgendwo sicher vor ihnen, weil sie denken, man ist nirgendwo sicher vor uns.«
Treslove konnte mit dem Wechsel ihrer Gefühle nicht Schritt halten und begriff, dass sie nicht erst Angst, dann Belustigung, dann wieder Angst empfand, sondern beide Gefühle zugleich
erlebte. Sie versuchte nicht einmal, Gegensätze zu versöhnen, da diese Gefühle für sie keine Gegensätze waren. Sie gehörten zusammen, waren Teil des jeweils anderen.
Er wusste nicht, wie er mithalten sollte. Ihm fehlte diese emotionale Flexibilität. Und er wusste nicht einmal, ob er sie gern gehabt hätte. War das nicht irgendwie unverantwortlich? Fast, als sollte er in dem Moment lachen, in dem Violetta in Alfredos Armen starb? Ein Gedanke, den er selbst dann noch undenkbar fand, als er ihn zu denken versuchte.
Nicht zum ersten Mal in letzter Zeit fühlte sich Treslove, als hätte er bei einer Prüfung versagt.
NEUN
1
Libors Verstand begann zu muffeln. Die Feststellung kam von ihm selbst.
In den ersten Monaten nach Malkies Tod fand er die Melancholie am Morgen unerträglich. Er wachte in der Hoffnung auf, sie neben sich zu spüren. Er meinte zu sehen, wie sich auf ihrer Seite die Bettdecke regte. Er redete mit ihr, öffnete die Schranktüren und stellte
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