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Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
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dieses Gerede vom Töten brachte ihn aus der Fassung. Hatte sie irgendwie erraten, was er ihr antun wollte?
    Die Gemeindejuden waren für sie keine Gegner. Was nicht viel heißen wollte. Selbst für einen Clown wie Kugle wären sie keine Gegner gewesen. Hätten sie allein auf dem Podium gesessen, wäre es ihnen immer noch gelungen, die Debatte zu verlieren. Sie brachten sich selbst durcheinander. Finkler seufzte, als sie die alte Leier anstimmten und Argumente vorbrachten, die schon überholt gewesen waren, als er sie vor dreißig Jahren zum ersten Mal von seinem Vater gehört hatte – wie klein Israel sei, wie lang die jüdischen Ansprüche auf das Land bereits bestünden, wie wenige der Palästinenser tatsächlich dort einheimisch gewesen seien, was Israel alles angeboten hätte, jede Bemühung um Frieden aber von den Arabern zurückgewiesen worden sei und dass heute, angesichts des wachsenden Antisemitismus, ein sicheres Israel notwendiger sei denn je …
    Warum beauftragten sie nicht ihn damit, ihre Reden zu schreiben? Er hätte für sie gewinnen können. Nur wer versteht,
wie die Gegenseite denkt, kann gewinnen, und sie verstanden überhaupt nichts.
    Er meinte »gewinnen« in jeder Hinsicht. Die Debatte gewinnen und das Reich Gottes gewinnen.
    Mit seinem Vater war es das älteste Streitthema gewesen: dass die Juden, denen es als höchste Tugend galt, anderen nicht anzutun, was sie sich selbst nicht angetan zu bekommen wünschten, und die nie den Fremden vergessen, ihm stets Wasser geben sollten, zu einem Volk geworden waren, das nur noch Gehör für sich selbst besaß. Er fand die Clownerien seines Vaters im Geschäft unerträglich, doch war er dort wenigstens Demokrat und Humanist; wenn er aber mit Hut und schwarzem Mantel aus der Synagoge heimkehrte und über Politik redete, war seine Miene so erstarrt wie sein Verstand.
    »Sie haben gekämpft und verloren«, pflegte sein Vater zu sagen. »Sie hätten uns ins Meer getrieben, aber sie haben gekämpft und verloren.«
    »Das kann für uns doch kein Grund sein, uns nicht wenigstens vorzustellen, wie es ist, wenn man verliert«, argumentierte der junge Finkler. »Schließlich haben die Propheten nicht gesagt, dass wir Mitleid nur mit denen haben sollen, die es verdienen.«
    »Sie bekommen, was sie verdienen. Wir geben ihnen, was sie verdienen.«
    Und so hatte Finkler seine Kippa fortgeworfen und den Namen von Samuel zu Sam gekürzt.
    »Immer der gleiche Sermon«, murmelte er Tamara zu.
    »Hysterisch – habe ich doch gesagt«, antwortete sie mit verhaltener Stimme.
    Finkler krümmte die Finger und spürte, wie sich seine Fäuste bis in die Ärmel zurückzogen.
    Erst als man Fragen aus dem Publikum zuließ, wurde der Abend ein wenig lebhafter. Vertreter beider Seiten der Debatte
riefen in den Saal und erzählten Geschichten persönlicher Natur, die sie für einen Beweis dessen hielten, woran sie glaubten. Eine nicht-jüdische Frau stand mit betrübter Miene auf und bekannte im Ton einer Beichtenden, sie sei mit einem Gefühl der Ehrfurcht für das erzogen worden, was Professor Finkler – er war kein Professor, aber das ließ er ihr durchgehen – die hehre jüdische Ethik genannt hatte – er hatte nichts dergleichen gesagt, ließ ihr das aber auch durchgehen –, doch nun sei sie im Heiligen Land gewesen und habe ein Land kennengelernt, in dem Apartheid herrsche und Rassisten die Oberhoheit ausübten. Sie habe eine Frage an die Herren auf dem Podium, die sich darüber beklagten, dass Israel in einzigartiger Weise verurteilt werde: Welches andere Land beurteile sich selbst und alle Einreisewilligen nach rassistischen Kriterien? Und werdet ihr Israelis nicht vielleicht deshalb in so einzigartiger Weise verurteilt, weil ihr so einzigartige Rassisten seid?
    »Sie sollte uns ein Beispiel sein«, sagte Tamara Krausz mit seidigem Unterton in der Stimme zu Finkler. Es war, dachte er, als hörte man eine Frau, mit der man nicht schlafen wollte, ihren Slip ausziehen.
    »Wieso?«, fragte er.
    »Sie spricht aus wundem Herzen.«
    War das der Grund, weshalb Finkler die Antwort der angesprochenen Herren nicht abwartete? Oder war es die zweifelsfreie Gewissheit, dass sie darauf ebenso unfähig antworten würden wie auf alle anderen Fragen? Finkler wusste es selbst nicht. Was er aber sagte, das sagte er ebenfalls aus wundem Herzen. Die Frage lautete nur: Wessen wundes Herz war es?
    6
    Finkler sagte Folgendes: »Wie können Sie es wagen?« Einen Moment lang sagte er nichts weiter.

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