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Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
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Bühne saßen sie nebeneinander. Es überraschte ihn, wie wenig man von ihr unterm Tisch sehen konnte, wie kurz die Beine, wie klein die Füße waren. Während er ihre Beine betrachtete, bemerkte er, dass sie die seinen musterte. Sicher dachte sie, wie lang sie waren, wie groß die Füße. Neben ihr fühlte er sich schlaksig und ungelenk. Hoffentlich fühlte sie sich neben ihm nichtssagend und unbedeutend.
    Am anderen Tischende saßen zwei etablierte Juden, Männer, die dem Vorstand von Synagogen und Wohltätigkeitsvereinen angehörten, tragende Säulen der Gesellschaft, Hüter der jüdischen Familie und des guten Namens Israels, also Finklers natürliche Feinde. Sie verkehrten nicht miteinander, die Wächterjuden und die rebellischen Juden der Fragen und Ideen. Einer der beiden erinnerte Finkler an seinen Vater, wenn er nicht im Geschäft war, wenn er betete oder mit anderen Juden redete, die seine Sorgen teilten. Es war genau dieser Eindruck von weltlichem Scharfsinn, kombiniert mit unerprobter Unschuld, die sich dem festen Glauben verdankte, dass Gott immer noch ein besonderes Interesse am jüdischen Volk hegte, dass er es mal beschützte wie sonst kein anderes, mal so heftig bestrafte wie sonst keines seiner Geschöpfe. Der gemeinschaftliche Solipsismus der Juden. Das fortdauernde Wunder lässt sie blinzeln, diese Männer, während sie zugleich hart miteinander verhandeln.
    Tamara Krausz beugte sich zu ihm vor. »Hysterischere Kerle hätten sie wohl kaum auftreiben können«, flüsterte sie, träufelte ihm ihre Verachtung wie warmes Öl ins Ohr.
    Hysterisch war ein Wort der ASCHandjiddn. Wer sich nicht zur Schande bekannte, hatte vor der Hysterie kapituliert. Der
Vorwurf ging auf den mittelalterlichen Aberglauben vom effeminierten Juden zurück, dem Juden, der eine seltsame Wunde verbarg und wie eine Frau blutete. Der neue hysterische Jude glich einer Frau, weil er sich einem Zustand unmännlichen Schreckens überließ. Wohin er auch blickte, sah er nur Antisemiten, vor denen er in den Grundfesten seiner Seele erbebte.
    » Was für Kerle haben sie aufgetrieben?«, fragte Finkler.
    Er hatte sie durchaus verstanden, wollte es aber noch mal hören.
    »Hysterische.«
    »Ach so, hysterische … Sind sie denn hysterisch?«
    Er spürte, wie sich alle Sehnen in seinem Körper zusammenzogen, sodass sich seine Finger, wenn er auch nur mit dem Schulterblatt zuckte, krümmen und zur Faust ballen würden.
    Ihr blieb keine Zeit für eine Antwort. Die Debatte hatte begonnen.
    Finkler und Tamara Krausz gewannen, natürlich. Finkler argumentierte, man könne nicht vom Bestreben des einen Volkes nach nationaler Unabhängigkeit schwärmen, sie einem anderen Volk aber verwehren. Das Judentum sei im Kern eine ethische Religion, sagte er, was im Innersten einen Widerspruch entstehen lasse, da man, bei allem Respekt gegenüber Kierkegaard, unmöglich zugleich ethisch und religiös sein könne. Der Zionismus habe fürs Judentum die große Gelegenheit bedeutet, der Religiosität zu entkommen, bei anderen zu suchen, was die Juden sich selbst abverlangten, um dann im gleichen Geiste zu geben. Mit dem militärischen Sieg aber erlag die jüdische Ethik wieder einmal dem irrationalen Triumphalismus der Religion. Nur eine Rückkehr zur Ethik könne die Juden jetzt noch retten.
    Tamara sah dies ein wenig anders. Für sie war das zionistische Ideal von Grund auf kriminell. Zum Beweis zitierte sie Leute, die überwiegend vom Gegenteil überzeugt waren. Opfer dieser Kriminalität seien nicht nur die Palästinenser, sondern die
Juden selbst. Die Juden überall. Sogar in diesem Saal. Sie redete betont kühl, so als verteidige sie einen Klienten, an den sie nicht recht glaubte, bis sie auf das zu sprechen kam, »was der Westen Terrorismus nennt«. Da begann sie, warm zu werden, wie der neben ihr sitzende Finkler bemerkte. Die Lippen schwollen an, als hätte ein dämonischer Liebhaber sie geküsst. Der Gewalt hafte eine Art Erotik an, erzählte sie dem gebannt lauschenden Publikum. Man könne sich jene, die man tötet, zu Herzen nehmen, so wie man sich jene zu Herzen nehmen könne, die einen selbst töten. Doch da die Juden die Deutschen zu sehr geliebt hatten und wehrlos in den Tod gegangen waren, hätten sie sich gegen den Eros entschieden, sich die Liebe aus dem Herzen gerissen und töteten nun mit einer Eiseskälte, die einem das Blut in den Adern gerinnen ließ.
    Finkler wusste nicht, ob dies Lyrik, Psychologie, Politik oder Blödsinn war. All

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