Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
die von Kriegsverbrechen berichteten und zum Boykott aufriefen, in den Ohren der Juden ein endloses Gesumm von Gerüchten und Anschuldigungen, die
demoralisierend wirkten, auch wenn sie noch so willkürlich sein mochten (Hephzibah hoffte zu Gott, dass sie willkürlich waren) –, all das fachte ihre Unruhe zusätzlich an. Hephzibah war keine glühende Zionistin und auch nie eine Jüdin gewesen, der eigenes Land besonders wichtig gewesen wäre. Sie fand, es ließ sich recht gut leben als Jüdin in St. John’s Wood. Wäre schön, wenn sich in der Bibel ein Hinweis auf Gottes Bund mit englischen Juden finden ließe, demzufolge er ihnen die High Street in St. John’s Wood versprochen hatte. Angesichts dessen aber, was von englischen Juden für den Zionismus geleistet worden war, durften in einem Museum anglo-jüdischer Kultur, selbst wenn es nur wenige Schritte von dem durch die Beatles berühmten Zebrastreifen entfernt lag, zionistische Errungenschaften nicht unberücksichtigt bleiben. Nur plagte sie die Frage, inwieweit auch die Versäumnisse des Zionismus berücksichtigt werden mussten.
Die widerwärtigen Vorfälle hatten nachgelassen. Seit Wochen waren die Türgriffe nicht mehr mit Schinkenspeck eingerieben worden, forderten keine neuen Verschandelungen Rache und Tod. (Rache? In St. John’s Wood?) Die Lage im Nahen Osten hatte sich entspannt, zumindest soweit es die britischen Medien betraf, weshalb sich die Wut, die sonst mit den Nachrichten aufkam, vorübergehend wieder beruhigte. Sicher, durch die Söhne Abrahams flammte sie für die Leser seriöser Zeitungen und Theatergänger erneut auf, doch schwelte sie bei denen, wie Hephzibah fand, ohnehin ständig wie ein Feuer, das nicht ausgehen wollte. Zumindest gaben die Juden im Augenblick nicht mehr das einzige Thema für die gebildete Konversation ab. Problematisch war nur, dass sich die Ruhe unheilvoller als der Sturm anfühlte. Was brauchte es – eine gegen Gaza, den Libanon oder gar den Iran gerichtete Aktion, einen kriegerischen Akt, eine Vergeltungstat, irgendein Ereignis an der Wall Street, jüdische Einflussnahme der falschen Art in der gleich um die Ecke gelegenen
Downing Street? Und alles würde wieder von vorn beginnen, nur noch gewalttätiger als beim letzten Mal, noch bitterer das Erwachen aus dem Schlummer.
Sie selbst hatte seit Ewigkeiten nicht mehr gut geschlafen, und der Grund dafür war nicht allein, dass Treslove in ihrem Bett lag. Sie ging nicht mehr unbeschwert zur Arbeit, traf nicht mehr leichten Herzens ihre Freunde. Sorge legte sich wie feiner Staub auf alles, was sie tat, auf alle, die sie kannte – zumindest auf alle Juden. Auch sie wirkten skeptisch, blickten zwar nicht einfach nur zurück über die Schulter, aber doch in eine schwierige, unsichere Zukunft, die beängstigende Ähnlichkeit mit der nur allzu bekannten Vergangenheit aufwies.
War das Paranoia, überlegte sie. Monoton wiederholte sie die Frage, die sich aufdrängte, während sie im winterlichen Sonnenschein zur Arbeit ging, vorbei am menschenleeren Lord’s, bei dessen Anblick sie sich wünschte, ein Mann zu sein, der sich im Sport vergessen konnte. Sie fürchtete, was sie erwartete, wenn sie zum Museum kam. Werde ich paranoid? Der Rhythmus dieser Frage beeinflusste ihren Schritt, sie passte sich ihrem Takt an.
Es machte ihr Angst, dass das Museum ein Ziel möglicher Anschläge war. Doch ebenso machte ihr die eigene Furcht Angst. Angeblich hatten Juden dies doch längst alles hinter sich gelassen. »Niemals wieder« und so. Nun, es fiel ihr schwer, sich als Deportierte in dünnem Blümchenkleid vorzustellen, in der Hand einen kleinen Koffer, die Augen schreckensweit aufgerissen, während sie schmuckklimpernd durch das grün belaubte St. John’s Wood spazierte, eine Handtasche für fünfzehnhundert Pfund unter dem Arm. Aber hatte es für die Frau im Blümchenkleid mit schreckensweiten Augen nicht auch eine Zeit gegeben, in der es ihr schwergefallen sein dürfte, sich ihr künftiges Schicksal vorzustellen?
War das Paranoia? Sie wusste es nicht. Niemand wusste das. Manche meinten ja, die Paranoiden selbst würden das hervorbringen,
was sie fürchteten. Aber wie sollte das gehen? Wie wird Hass durch Furcht vor Hass gezeugt? Gab es Nazis da draußen, die nicht wussten, dass sie Nazis waren, bis ein Jude sein Entsetzen zeigte? Schickte jüdische Furcht sie zu den Kostümschneidern auf die Suche nach braunen Hemden und Schaftstiefeln?
Der alte foetor judaicus . Ein
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