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Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
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seinen Unwillen kaum zu verhehlen, wenn Treslove es wagte, als Außenseiter eine eigene Meinung zu haben. »Weil so viel Blut vergossen wird, während wir hier herumsitzen und nichts tun«, sagte er und besprinkelte Treslove mit seiner Verachtung, um dann, an Libor gewandt, fortzufahren: »Und weil ich mich als Jude dafür schäme.«
    »Jetzt schaut ihn an«, sagte Libor, »protzt mit seiner Scham vor einer gojischen Welt, die an weit Besseres zu denken hat, nicht wahr, Julian?«
    »Nun«, begann Treslove, doch war das auch schon alles, was beide von der gojischen Welt hören wollten.
    »Mit welchem Recht wirfst du mir vor, mit irgendwas zu protzen?«, wollte Finkler wissen.
    Libor aber legte nach: »Liebt man dich denn wegen deiner Bücher nicht schon genug? Muss man dich auch noch wegen deines Gewissens lieben?«
    »Ich will keine Liebe. Ich will Gerechtigkeit.«
    »Gerechtigkeit? Und du nennst dich Philosoph? Was du willst, das ist die warme Glut der Selbstgerechtigkeit, die man fühlt, wenn man das Wort laut ausspricht. Hör auf mich – ich war dein Lehrer und bin alt genug, dein Vater zu sein –, Scham ist eine Privatangelegenheit. Die behält man besser für sich.«
    »Ach ja, das Familienargument.«
    »Und was ist falsch am Familienargument?«
    »Wenn sich ein Mitglied deiner Familie danebenbenimmt, ist es dann nicht deine Pflicht, Libor, ihn darauf hinzuweisen?«
    »Ihn darauf hinweisen, ja. Ihn boykottieren, nein. Wer boykottiert schon die eigene Familie?«
    Und so ging es weiter, bis sich die Bedürfnisse von Männern, denen der Trost weiblicher Gesellschaft fehlte – noch ein Glas Portwein, ein weiterer unnötiger Gang zur Toilette, ein Nickerchen nach dem Essen –, geltend machten.

    Während Treslove ihnen gleichsam von den Rängen her zuschaute, registrierte er mit neidischem Staunen ihr Finklertum. Welch ein Selbstvertrauen, welche Gewissheit, im Recht zu sein, ganz unabhängig davon, ob Libor nun mit seiner Vermutung recht hatte, dass Finkler nichts anderes wollte, als von Nicht-Finklern akzeptiert zu werden.
    Doch was Sam Finkler auch immer wollte, auf Julian Treslove wirkte er stets so, dass der sich nicht recht wohl- und irgendwie ausgeschlossen fühlte. Einem Selbst untreu, von dem er nicht einmal sicher wusste, ob er es besaß. In der Schule war es nicht anders gewesen. Mit Finkler fühlte er sich wie jemand, der er nicht war. Fast wie ein Clown. Erkläre das, wer will.
    Man hielt Treslove auf eine Weise für gut aussehend, die sich schwer beschreiben ließ; er hatte jedenfalls Ähnlichkeit mit gut aussehenden Leuten. Symmetrie spielte dabei eine gewisse Rolle. Und Anstand. Er hatte ein anständiges Gesicht. Außerdem war er gut gekleidet, im Stil von wem noch mal? Wohingegen Finkler – dessen Vater seine Kunden aufgefordert hatte, ihm in den Bauch zu boxen – füllig geworden war, die Wampe oft aus dem Hemd hängen ließ, die Kamera ansprenkelte und auf großen Füßen dahinwatschelte, wenn er einen jener sinnlosen Fernsehgänge die Straße hinunter absolvierte, auf der Roland Barthes von einem Wäscheauto angefahren worden war, oder das Feld überquerte, auf dem Hobbes einen Schrebergarten besessen hatte; und wenn er sich hinsetzte, dann sackte er in sich zusammen wie ein Krämer in seinem Gewürzbasar. Dennoch war es Treslove, der sich wie ein Clown vorkam.
    Ob Philosophie etwas damit zu tun hatte? Alle paar Jahre beschloss Treslove, es sei an der Zeit, es noch einmal mit Philosophie zu versuchen. Statt am Anfang mit Sokrates zu beginnen oder direkt zur Epistemologie vorzurücken, machte er sich auf und kaufte, was eine verständliche Einführung in das Thema zu
sein versprach – von jemandem wie Roger Scruton oder Bryan Magee, wenn auch nicht, aus vielleicht verständlichen Gründen, von Sam Finkler. Diese Versuche der Weiterbildung ließen sich anfangs immer gut an. Das Thema war schließlich nicht allzu schwierig. Er konnte leicht folgen. Doch dann, stets mehr oder weniger zur selben Zeit, stieß er auf eine Gedankenreihe oder Argumentationskette, der er nicht mehr folgen konnte, selbst wenn er noch so viele Stunden mit ihrer Entschlüsselung verbrachte. Eine Behauptung wie zum Beispiel jene, dass »der Evolution die Idee entstamme, die Ontogenese wiederhole die Phylogenese« – an sich keineswegs zu kompliziert –, widerstand irgendwie all seinen Bemühungen, so als löste sie etwas Unnachgiebiges, gar Delinquentes in seinem Geiste aus. Oder die Aufforderung, eine Behauptung unter

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