Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
drei Perspektiven zu betrachten, von denen jede fünf hervorstechende Merkmale habe, deren erstes wiederum vier deutlich unterscheidbare Aspekte aufweise – es war, als führte man ein völlig normales Gespräch mit einer angeblich vernünftigen Person, nur um dann festzustellen, dass sie eigentlich doch ziemlich verrückt war. Und wenn nicht verrückt, dann sadistisch.
Ob Finkler auf ähnliche Widerstände treffe, hatte Treslove ihn einmal gefragt. Nein, lautete die Antwort, für ihn sei das alles klar und verständlich. Und die Leute, die seine Bücher lasen, fanden auch, dass er sich klar und verständlich ausdrücke. Wie wollte man sonst erklären, dass es so viele von ihnen gab?
Erst als er ihm zum Abschied nachwinkte, kam Treslove der Gedanke, dass sich sein alter Freund womöglich nach Gesellschaft sehnte. Libor hatte recht – Finkler war auf der Suche nach Liebe. Ohne Frau kann ein Mann in einem großen schwarzen Mercedes ziemlich einsam sein, ganz unabhängig davon, wie viele Leser er hat.
Treslove sah zum Mond auf und ließ den Kopf kreisen. Er liebte diese warmen, hohen Sommerabende, einsam und von allem ausgeschlossen. Er griff nach den Gitterstäben, als wollte er das Tor einreißen, tat aber nichts Gewaltsames, lauschte einfach nur dem Atem des Parks. Wer ihn sah, hätte ihn für einen Anstaltsinsassen halten können, für einen Gefangenen oder Verrückten, der verzweifelt zu entkommen versuchte. Möglich wäre aber auch eine andere Deutung seines Verhaltens: Vielleicht versuchte er ja, verzweifelt hineinzugelangen.
Eigentlich aber brauchte er das Tor, um sich aufrecht zu halten, so berauscht war er, wenn auch nicht von Libors Wein, obwohl es davon für drei trauernde Herren reichlich gegeben hatte, sondern von den reifen, sinnlichen Ausdünstungen des Parks. Wie ein Liebhaber öffnete er den Mund und ließ den weichen Laubduft in seine Kehle dringen.
Wie lang war es her, dass er den Mund für eine echte Geliebte geöffnet hatte? Ihn wirklich geöffnet hatte, aufgerissen, um nach Luft zu schnappen, seine Dankbarkeit hinauszuschreien, vor Freude und Furcht laut zu heulen. Gingen ihm die Frauen aus? Er war ein Liebhaber, kein Casanova, es war also nicht so, als hätte er die Kandidatinnen für seine Zuneigung der Reihe nach aufgebraucht. Nur schienen sie auf einmal nicht mehr da zu sein. Oder sie waren plötzlich immun gegen Mitleid, zumindest jene Sorte Frauen, die in der Vergangenheit sein Herz gerührt hatte. Er sah die Schönheit der Mädchen, die auf der Straße an ihm vorübergingen, bewunderte ihre kraftvollen Glieder, verstand den Reiz, den sie auf andere Männer ausübten, ihre sorglose Beeindruckbarkeit, doch hatten sie auf ihn keine Laternenpfahlwirkung mehr. Er sah sie nicht in seinen Armen sterben. Konnte nicht um sie weinen. Und konnte er nicht weinen, konnte er nicht lieben.
Konnte nicht einmal begehren.
Für Treslove gehörte die Melancholie unabdingbar zur Sehnsucht dazu. War das denn so ungewöhnlich, fragte er sich. War
er der einzige Mann, der sich an eine Frau klammerte, nur weil er sie nicht verlieren wollte? Nicht an andere Männer, das meinte er nicht. Andere Männer interessierten ihn eigentlich nicht. Was keineswegs heißen sollte, dass er ihnen alles nachsah – selbst heute noch schmerzte die beiläufige Art, mit der ihn der Schiebefenster reparierende Italiener kaltgestellt hatte –, aber er war nicht eifersüchtig. Zu Neid war er fähig, oh ja – er war neidisch gewesen, war immer noch neidisch auf Libors monoerotisch (»ärotihksch«), wie es aus Libors Mund klang, wenn er die Silben durch seine krummen tschechischen Zähne quetschte) gelebtes Leben –, aber eifersüchtig, nein. Der Tod war sein einzig ernsthafter Rivale.
»Ich habe einen Mimi-Komplex«, hatte er seinen Freunden auf der Universität erklärt. Sie hielten es für einen Scherz oder dachten, er wolle besonders clever rüberkommen, aber darum ging es ihm nicht. Er schrieb einen Essay zu diesem Thema im Kurs Weltliteratur in Übersetzungen , für den er sich eingeschrieben hatte, nachdem er mit Ökologische Entscheidungsfindung gescheitert war – den entsprechenden Vorwand lieferte Henri Murgers Roman, die Vorlage zur Oper La Bohème . Für die Interpretation gab ihm sein Dozent eine Eins, eine Vier minus für geistige Unreife.
»Werde erwachsen«, hatte er gesagt, als Treslove seine Benotung infrage stellte.
Tresloves Zensur wurde zu einer Eins mit Sternchen aufgewertet, doch wurde jede Zensur
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