Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
aufgewertet, wenn die Studenten sie infrage stellten. Da sich aber alle Studenten wegen ihrer Zensuren an die Dozenten wandten, fand Treslove, könnten sie auch gleich eine Eins mit Sternchen geben und sich eine Menge Zeit sparen. Seinem Mimi-Komplex sollte er allerdings nie entwachsen, der war, trotz Tresloves neunundvierzig Jahren, noch ziemlich ausgeprägt. Aber galt das nicht generell für Opernliebhaber?
Und vielleicht hatte er auch – wie alle Liebhaber präraffaelitischer Bilder und Leser von Edgar Allen Poe – einen Ophelia-Komplex. Der vorzeitige Tod einer schönen Frau – gab es etwas Poetischeres?
Wenn Julian an einer Weide oder einem Bach vorbeikam, am besten gleich an einer schief über einem Bach wachsenden Weide – was sich in London nicht besonders oft finden ließ –, sah er Ophelia im Wasser liegen, wie sie, einer Meeresnixe gleich, mit weit aufgefächerten Kleidern ihre melodischen Weisen sang. In zu vielen Wassern war sie zu finden – ist je eine Frau in so viel Kunst ertränkt worden? –, doch zögerte er keinen Augenblick, ihre Fluten mit seinen Tränen zu mehren.
Es war, als wäre ihm von den Göttern (Gott konnte er nicht sagen, da er an keinen Gott glaubte) ein Pakt aufgezwungen worden, demzufolge er eine Frau so vollständig und ausschließlich besitzen, sie so lückenlos mit seinen Armen umschließen musste, dass der Tod durch kein Schlupfloch zu ihr dringen konnte. In diesem Sinne liebte er auch, in jenen Tagen damals, als er noch liebte. Verzweifelt, ausdauernd, als wollte er alle bösen Geister erschöpfen und verscheuchen, die es auf die Frau in seinen Armen abgesehen hatten. Von Treslove umarmt, konnte jede Frau glauben, immun gegen jegliches Leid zu sein. Hundemüde, aber geborgen.
Wie sie schliefen, sobald er mit ihnen fertig war, die Frauen, die Treslove anbetete. Wenn er über sie wachte, dachte er manchmal, sie würden nie wieder aufwachen.
Deshalb blieb es ihm ein Rätsel, warum sie ihn verließen oder es ihm unmöglich machten, sie seinerseits nicht zu verlassen. Das war die Enttäuschung seines Lebens. Dazu bestimmt, ein neuer Orpheus zu sein, der seine Geliebte aus dem Hades lockte, um sich zuletzt doch umzudrehen und auf ein Leben der Hingabe zurückzuschauen, jemand der Tränen unerträglicher Trauer vergoss, wenn sie zum letzten Mal in seinen Armen verschied – »Meine
Liebe, meine einzige Liebe!« –, stand er stattdessen hier und gab sich als einer aus, der er nicht war, ein universeller Doppelgänger, der anders fühlte, als andere fühlten, dem nichts weiter blieb, als die Düfte des Parks einzusaugen und um einen Verlust zu weinen, der, bei allem Respekt, nicht der seine war.
Das war also auch etwas, worum er Libor beneiden konnte – seine Trauer, seinen Verlust.
5
Er blieb etwa eine halbe Stunde am Parktor, ehe er gemessenen Schrittes zum West End zurückging, vorbei an der BBC – seinem alten Revier – und Nashs Kirche, in der er sich einmal verliebt hatte, während er einer Frau dabei zusah, wie sie eine Kerze anzündete und sich bekreuzigte. Vor Kummer, nahm er an. Im Chiaroscuro, dämmerig wie das Licht. Düster wie er selbst. Untröstlich. Also hatte er sie getröstet.
»Es wird schon wieder«, sagte er. »Ich beschütze dich.«
Sie hatte zarte Wangenknochen, eine fast durchsichtige Haut. Man konnte das Licht durch sie hindurchschimmern sehen.
Nach zwei Wochen intensiven Trosts fragte sie ihn: »Warum sagst du immer, es wird schon wieder? Es ist doch nichts passiert. «
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe gesehen, wie du eine Kerze angezündet hast. Komm her.«
»Ich mag Kerzen. Sie sind hübsch.«
Er fuhr ihr mit der Hand durchs Haar. »Du magst ihr Flackern. Ihre Vergänglichkeit. Das verstehe ich.«
»Es gibt da etwas, was du über mich wissen solltest«, sagte sie. »Ich bin ein kleiner Feuerteufel. Nichts Schlimmes. Ich wollte die Kirche auch nicht abfackeln, aber Feuer macht mich an.«
Er lachte und küsste ihr Gesicht. »Still«, sagte er. »Still, meine Liebe.«
Beim Aufwachen am Morgen kam ihm eine zweifache Erkenntnis; die erste war, dass sie ihn verlassen hatte, die zweite, dass sein Bettzeug brannte.
Statt in die Regent Street einzubiegen, ging er an der Kirche links und trat zwischen die Säulen, streifte mit der Schulter ihre animalisch weichen Rundungen, war gleich darauf mitten unter den kleinen Modegeschäften der Riding House Street und Little Titchfield Street und fand sich wie stets von dem Tempo überrascht,
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