Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
und eine Anzahl von ihm verfasster Artikel, die sie ohne sein Wissen mit Anmerkungen versehen und abgeheftet hatte, darüber hinaus eine Aufnahme jener Sendung von Desert Island Discs , in
deren Verlauf er der Welt seine Schande und Beschämung verkündet hatte, was sie ihm, wie sie damals schwor, nie verzeihen und nun auch in alle Ewigkeit nicht verzeihen würde.
In einem Karton, beschrieben mit »Von meinem Mann zu öffnen, wenn ich von ihm gegangen bin«, was ihn zuerst glauben ließ, sie hätte die Schachtel vorbereitet, als sie ihn in einem prosaischeren Sinne zu verlassen gedachte – hatte sie je ernsthaft vorgehabt, sich von ihm zu trennen? –, fand er Fotos, die ihn als netten jüdischen Jungen bei seiner Bar-Mizwa zeigte, Hochzeitsfotos von ihm als nettem jüdischem Bräutigam und Fotos von ihm als nettem jüdischem Vater bei den Bar-Mizwas seiner Söhne (diese in einem Umschlag mit einem großen Fragezeichen versehen, als hätte sie sich gefragt: Warum, warum, warum, Schmuel, hast du dich je auf diese Zeremonien eingelassen, wenn du vorhattest, sie in den Schmutz zu ziehen?), zusammen mit einer Reihe von Artikeln über den jüdischen Glauben und den Zionismus, manche von ihm verfasst und wiederum mit zahlreichen Anmerkungen versehen, andere von Journalisten und Gelehrten, sogar ein kurzes, mit Maschine geschriebenes Manuskript, in scharfem Ton, mit einem Übermaß an Satzzeichen versehen und säuberlich wie eine Hausarbeit in eine Plastikfolie gesteckt, der Verfasser niemand anderes als Tyler Finkler, seine Frau.
Als Finkler dies fand, krümmte er sich zusammen und weinte.
Finkler hatte immer gefunden, dass ihre Texte für eine gute Schriftstellerin zu gekünstelt klangen. Er war zwar selbst kein Stilist, wusste aber, wie man Sätze auf Trab brachte. Ein Rezensent eines seiner ersten Selbsthilfebücher hatte einmal geschrieben – Finkler wusste nicht, ob es höflich oder unhöflich gemeint war, und nahm folglich Ersteres an –, ihn zu lesen sei, als unternehme man eine Zugfahrt in Gesellschaft eines Menschen, der womöglich ein Genie, womöglich aber auch nur ein Schwachkopf war. Tylers Stil schwankte zwischen keinen
Extremen. Sie zu lesen war, als unternehme man eine Zugfahrt mit einer zweifellos klugen Person, die ihr Leben dem Verfassen von Grußkarten gewidmet hatte. Eine Kritik übrigens, die Flirten mit Sokrates: Wie man mit Vernunft zu besserem Sex findet, einer von Finklers frühen Bestsellern, auf sich gezogen hatte.
Tyler war plötzlich etwas über ihren Gatten klar geworden, weshalb sie ihre Gedanken zu Papier gebracht hatte. Er war zu jüdisch. Ihm fehlte es keineswegs an jüdischem Gedankengut oder Temperament, ganz im Gegenteil. Das galt für sie alle, diese Scham juden. (Schamjuden war ihr Wort für die ASCHandjiddn. Scham im Sinne von Schande, und eben davon war sie überzeugt. Dass sie Schande brachten.) Er aber, dieser aufgeblasene Arsch, hatte mehr Schande gebracht als alle anderen.
»Das Problem mit meinem Mann ist«, schrieb sie wie an einen Scheidungsanwalt, dabei war das Schreiben an Finkler gerichtet, »dass er glaubt, über den jüdischen Zaun gesprungen zu sein, den sein Vater um ihn gezogen hat, dabei sieht er noch immer alles aus einem TOTAL jüdischen Blickwinkel, selbst die Juden, die ihn enttäuschen. Wohin er auch schaut, ob nach Jerusalem, Stamford Hill oder Elstree, sieht er Juden, die nicht besser oder schlechter als andere Menschen leben. Und da sie nicht über alle Maßen gut sind, folgt daraus – nach seiner extremen jüdischen Logik –, dass sie über alle Maßen schlecht sind! So wie mein Mann seinem Vater zum Trotz die konventionellen Juden verachtet, klammert er sich mit aller Arroganz an das Prinzip, dass Juden da sind ›zum Lichte der Heiden‹ (Jesaja 42:6), oder aber sie verdienen es nicht zu existieren.«
Finkler weinte noch einige Male. Nicht wegen der gegen ihn gerichteten Kritik, sondern wegen der kindlichen Gewissenhaftigkeit ihrer Bibelzitate. Er stellte sich vor, wie sie sich konzentriert über das Blatt Papier beugte, gar nach der Bibel griff, um sicherzugehen, dass sie Jesaja korrekt zitierte. Dabei musste er an sie als kleines Mädchen in der Sonntagsschule denken, wie sie
mit dem Stift zwischen den Lippen über die Juden las, ohne zu wissen, dass sie eines Tages einen Juden heiraten, einem Juden das Leben geben und selbst eine Jüdin werden würde, wenn auch nicht in den Augen von solch orthodoxen Juden wie seinem Vater, vielleicht nicht
Weitere Kostenlose Bücher