Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
konnte schallend lachen und doch im selben Atemzug sanft sein. Und nun wollte sie, dass ein Lachen ihr letztes Geschenk für ihn war.
Im verstohlenen Wechsel zwischen derb und sanft, irgendwann zwischen Wachen und Schlaf, Licht und Dunkelheit, fanden sie – fand sie, fand sie – ihren Modus Mortis .
Es ließ sich aushalten, damals. Kein Friede, kein Resignieren, ein Konflikt zwischen der Tatsache des Todes und dem Faktum Leben. Obwohl sie starb, lebten sie noch zusammen. Er machte das Licht aus, legte sich wieder zu ihr, hörte, wie sie verschied, und wusste, sie lebte mit dem Sterben.
Doch am Morgen begann das Grauen aufs Neue. Nicht bloß die grauenhaften Schmerzen und das grauenhafte Wissen darum, wie sie ausgesehen haben musste, sondern auch das Grauen des Wissens um den Tod.
Hätte Libor ihr dieses Wissen nur ersparen können! Um ihr das zu ermöglichen, wäre er für sie gestorben, hätte er sie dadurch nicht mit einem weiteren und – wie sie beteuerte – noch größeren Kummer belastet. Er fand es unerträglich, wenn der
Morgen anbrach und sie zu dem erwachte, was der Schlaf sie hoffentlich vergessen ließ. Er stellte sich eine Unterteilung der Zeit vor, das Millionstel eines Millionstels einer Sekunde reiner geistiger Qual, in der ihr die schreckliche Unumkehrbarkeit des eigenen Lebensendes wieder bewusst wurde. Kein Lachen, keine tröstlichen Obszönitäten in den ersten Augenblicken des Morgens. Kein gemeinsames Trauern. Sie lag da für sich, wollte nichts von ihm hören, blieb unerreichbar, starrte zur Decke hinauf – als wäre dort der Weg, den sie letztlich nehmen würde – und stellte sich der eiskalten Gewissheit des baldigen Aufgehens im Nichts.
Der Vormittag, das hieß für sie warten. Was immer sie auch am Abend zuvor erreicht hatten, welche stille, fast erträgliche Illusion eines Lebens mit dem Sterben er mit ihr gefunden zu haben glaubte, der Vormittag machte alles wieder zunichte.
Also hieß es am Vormittag für Libor ebenfalls zu warten. Das morgendliche Warten darauf, dass sie erwachte. Und nun das morgendliche Warten darauf, dass er selbst erwachte.
Er wünschte sich, er wäre gläubig gewesen. Er wünschte sich, sie wären es beide gewesen, doch hätte der eine den anderen vielleicht auch mitgezogen. Allerdings kannte selbst der Glaube die Schwachstellen des Zweifels. Wie könnte es auch anders sein? In der Nacht sah man die Bedeutung, gar Gottes Gesicht, sofern man denn Glück hatte – die schechina : DieseVorstellung hatte ihm stets gefallen, zumindest der Klang des Wortes, Gottes Leuchten –, am nächsten oder übernächsten Tag aber war es verschwunden. Der Glaube war ihm kein Rätsel; rätselhaft fand er nur, wie man gläubig bleiben konnte.
Nachts küsste er sie auf die Augen und versuchte, selbst hoffnungswillig in Schlaf zu sinken. Doch nichts wurde besser, es wurde nur schlimmer, gerade weil jedes sorgsam erkämpfte Gefühl der Besserung, der Zustimmung, des Sich-Abfindens, der Anpassung – er hatte kein Wort dafür – nie auch nur eine Nacht
überdauerte. Nichts wurde je geklärt. Nichts je besiegelt. Der Tag begann erneut, als überfiele sie das Grauen in eben diesem Moment zum ersten Mal.
Und ihn.
6
Mit Tylers Leben ging es viel rascher zu Ende. Selbst in ihren Fehltritten war sie stets eine energische Frau gewesen und ging nun auch mit ihrem Tod ganz pragmatisch um. Sie traf Vorkehrungen, soweit nötig, hinterließ Instruktionen, nahm Finkler gewisse Versprechen ab und von ihren Kindern so gefühllos Abschied, wie es ihr möglich war, gab dann ihrem Mann die Hand, als besiegelte sie einen Handel, der für sie zwar nicht ganz optimal, alles in allem aber auch nicht sonderlich schlecht verlaufen war – und starb.
Finkler hätte sie am liebsten geschüttelt und gerufen: »Ist das alles, was ich kriege?«
Mit der Zeit aber entdeckte er, dass es durchaus Dinge gab, die sie ihm hatte sagen wollen, die sie zur Sprache bringen wollte, aber nie angeschnitten hatte, wohl weil sie fürchtete, ihn oder sich selbst damit aufzuregen. Nichts Zärtliches oder Sentimentales – auch wenn er immer wieder von ihm geschriebene Briefe sowie Fotos von ihnen beiden und der Familie fand, die sie hübsch mit einem Band umwickelt, zu einem Bündel verschnürt und an für sie wohl geschützten, würdigen Orten aufbewahrt hatte –, sondern eher Dinge praktischer und argumentativer Natur, Souvenirs ihrer Meinungsverschiedenheiten, zudem Dokumente über ihre Bekehrung zum Judentum
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