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Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
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tot. Nicht eine zuckte mehr. Er fegte sie zusammen und füllte damit den Mülleimer. Kaum war er damit fertig, kam Joias Bruder, um ihre Sachen abzuholen. »Aber nicht die Schuhe mit den Fliegen«, sagte er, als wäre Treslove jemand, der Frauen böswillig Fliegen in die Schuhe stopfte. »Meine Schwester meint, die dürfen Sie als Andenken behalten.«
    Treslove dachte hin und wieder durchaus an Joia, und er wusste, von ihr war er nicht überfallen worden. Joias Knochen hätten das Gewicht der Angreiferin gar nicht getragen. Außerdem hätte sie nie mit so tiefer Stimme reden können. Überhaupt, wenn Joia in der Nähe gewesen wäre, hätte er es gewusst. Ihre angespannten Nerven hätten sie schon von Weitem verraten.
    Und jeder Kontakt mit ihr hätte ihm den Verstand geraubt.
Dann war da noch die Sache mit dem geschminkten Gesicht.
    Wenn Treslove daran dachte, dann höchstens, um zu vergessen. Er mochte ja mit dem fremdartigen Gefühl von einer Art Fröhlichkeit aufgewacht sein, doch hieß dies noch lange nicht, dass er an die Sache mit dem geschminkten Gesicht denken konnte.
     
    Nachdem er sich vier Tage lang mit ziemlichen Schmerzen gequält hatte, rief er seinen Arzt an. Er war Privatpatient – einer der Vorteile, wenn einem weder Frau noch Freundin auf der Tasche lagen – und bekam bereits für denselben Nachmittag einen Termin, nicht erst nächsten Monat, wenn der Schmerz vorbei oder er längst tot war. Treslove wickelte sich einen Schal um den Hals, zog den Schlapphut in die Stirn und trabte die Straße entlang. Zwanzig Jahre zuvor war er Patient bei Dr. Gerald Lattimores Vater gewesen, bei Charles Lattimore, der, kaum hatte er Treslove gesehen, in seiner Praxis tot umkippte. Weitere zwanzig Jahre zuvor war Dr. Gerald Lattimores Großvater, Dr. James Lattimore, bei einem Autounfall gestorben, gleich nachdem er Treslove zur Welt gebracht hatte. Jedes Mal, wenn Treslove Dr. Gerald Lattimore aufsuchte, ging ihm der Tod von Dr. James Lattimore und Dr. Charles Lattimore nicht aus dem Sinn, und er fragte sich, ob Gerald Lattimore nicht gleichfalls daran denken musste.
    Ob er mir die Schuld gibt, fragte sich Treslove. Schlimmer noch: Hat er Angst vor meinen Besuchen, weil er fürchtet, ihm könnte Ähnliches widerfahren? Ärzte inspizieren die Gene wie Wahrsager den Kaffeesatz; sie glauben an vernunftbedingte Zufälle.
    Doch woran sich Dr. Gerald Lattimore auch erinnern mochte, er behandelte Treslove jedenfalls stets brutaler, als man für nötig halten sollte.
    »Tut das weh?«, fragte er und kniff Treslove in die Nase.
    »Verdammt weh.«

    »Ich glaube trotzdem nicht, dass irgendwas gebrochen ist. Nehmen Sie ein paar Paracetamol. Wie ist das passiert?«
    »Bin gegen einen Baum gelaufen.«
    »Sie würden staunen, wenn Sie wüssten, wie viele meiner Patienten gegen Bäume laufen.«
    »Ich würde nicht im Mindesten staunen. Hampstead ist voll von Bäumen.«
    »Wir wohnen aber nicht in Hampstead.«
    »Außerdem sind wir heutzutage alle viel zu beschäftigt. Uns fehlt einfach der nötige geistige Freiraum, um sehen zu können, wohin wir gehen.«
    »Was beschäftigt Sie denn so?«
    »Alles. Leben. Tod. Das Glück.«
    »Möchten Sie mit jemandem darüber reden?«
    »Ich rede mit Ihnen.«
    »Glück gehört nicht in mein Fach. Sind Sie deprimiert?«
    »Nein, seltsamerweise nicht.« Treslove blickte zum Deckenventilator auf, einer klapprigen Angelegenheit mit schmalen Propellerblättern, die ächzend und ratternd träge an der Decke rotierten. Eines Tages fällt das Ding runter und tötet einen Patienten, dachte Treslove. Oder einen Arzt. »Gott ist gut zu mir«, sagte er, als wäre er es gewesen, den er im Ventilator betrachtet hatte, »im Großen und Ganzen.«
    »Nehmen Sie bitte einen Moment den Schal ab«, sagte Lattimore plötzlich. »Lassen Sie mich Ihren Hals sehen.«
    Seinem Ventilator nicht unähnlich, wirkte Lattimore überraschend behelfsmäßig zusammengesetzt. Treslove erinnerte sich an seinen Vater und stellte sich auch den Großvater als einen gewichtigen Mann von Format vor. Der dritte Dr. Lattimore dagegen erschien so jung, als hätte er noch nicht einmal das Studium beendet. Die Handgelenke waren schmal wie die eines Mädchens. Und die Haut zwischen den Finger schimmerte so rosig, als wären sie noch nie der Luft ausgesetzt
gewesen. Trotzdem tat Treslove, worum er gebeten worden war.
    »Und die Würgemerkmale am Hals stammen auch vom Baum?«, fragte der Arzt.
    »Okay, eine Frau hat mich

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