Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
Männer einen Sicherheitsbeamten gefesselt hatten und gewaltsam in eine Synagoge eingedrungen waren, um die Büros mit antisemitischen Graffiti zu verschandeln, die Thorarollen zu Boden zu werfen und fast fünf Stunden lang zu wüten. Zu den Graffiti gehörten Sprüche wie »Verfluchtes Judenpack«, »Juden raus!«, »Israelische Mörder« und das Bild eines Teufels.
Das Detail mit dem Teufel faszinierte ihn. Es bedeutete, dass diese fünfzehn Männer nicht bloß einen draufgemacht hatten, zufällig an einer Synagoge vorbeigekommen und aus einer Laune heraus dort eingedrungen waren. Denn wer steckt sich schon ein Teufelsbild in die Tasche, wenn er nur einen draufmachen will?
Argentinien:
Und las, dass in Buenos Aires eine Gruppe von Leuten, die den Jahrestag Israels feierte, von einer Bande mit Knüppeln und Messern bewaffneter Jugendlicher angegriffen worden war. Am Holocaust-Gedenktag – da haben wir’s wieder, Holocaust, Holocaust – war drei Wochen zuvor ein alter jüdischer Friedhof mit Hakenkreuzen beschmiert worden.
Kanada:
Kanada? Jawohl, Kanada.
Und las, dass im Laufe von Kanadas nun jährlich stattfindenden Israelischen-Apartheid-Wochen, die an den Universitäten im ganzen Land abgehalten wurden, Sicherheitsbeamte jüdische Störenfriede ver prügelten. Einer von ihnen hatte einen jüdischen Studenten gewarnt, er solle »die Schnauze halten, sonst säble ich dir den Kopf ab«.
Ob das, fragte er sich, wohl ein speziell kanadisches Abschreckungsmittel war, Juden den Kopf abzusäbeln?
Dann versuchte er es mit einem näher gelegenen Land.
Frankreich:
Und las, dass man in Fontenay-sous-Bois einem Mann, der einen Davidstern am Halsband trug, mit einem Messer in Kopf und Hals gestochen hatte.
In Nizza war »Tod den Juden« an die Mauern einer Grundschule gesprayt worden.
In Bischheim hatte man drei Molotowcocktails auf eine Synagoge geworfen.
In Creteil waren vor einem koscheren Restaurant zwei sechzehnjährige Juden von einer Bande zusammengeschlagen worden, die »Palästina wird siegen, ihr dreckigen Juden!« schrien.
Deutschland:
Was, sie trieben es immer noch im verschissenen Deutschland?
Und machte sich nicht die Mühe zu lesen, was sie im verschissenen Deutschland immer noch trieben.
England:
England, sein England. Und las, dass in Manchester ein einunddreißig jähriger Jude von mehreren Männern brutal zusammengeschlagen worden war, die dabei »Für Gaza« gerufen und ihm ein blaues Auge und mehrere Platzwunden beschert hatten.
In Birmingham war ein zwölfjähriges Mädchen vor einem gleichaltrigen Mob von Schulkindern geflohen, die »Tod allen Juden« geschrien hatten.
Und in London, gleich um die Ecke von der BBC, war ein neunundvierzigjähriger, blauäugiger Goi mit friedlicher Miene all seiner Wertsachen beraubt und »du Jud« genannt worden.
Schließlich rief er Finkler doch noch an, um ihm zu sagen, wie schön es gewesen sei, ihn wiederzusehen, und ob er wisse, dass in Caracas, Buenos Aires, Toronto – ja, in Toronto! – und in Fontenay-sous-Bois und London, doch da unterbrach ihn Finkler…
»Ich will ja nicht behaupten, dass es sich gut anhört«, sagte er, »aber die ›Kristallnacht‹ ist es nun auch nicht gerade, oder?«
Nachdem Treslove darüber nachgedacht hatte, rief er eine Stunde später wieder an: »Die ›Kristallnacht‹ ist nicht einfach aus dem Nichts heraus passiert«, sagte er, obwohl er nur eine ungefähre Vorstellung davon besaß, was genau zur ›Kristallnacht‹ geführt hatte.
»Ruf mich wieder an, wenn man einen Juden in der Oxford Street umbringt, nur weil er Jude ist«, sagte Finkler.
4
Es war zwar keine Pogromnacht gewesen, doch hatte sich der unprovozierte Überfall, bei dem er für einen Juden gehalten worden war, in Tresloves Vorstellung schon fast zu einer echten Gräueltat ausgewachsen. Er gestand sich ein, überreizt zu sein. Die Nacht mit Kimberley, das ihm von ihr fälschlich zugeschriebene typisch Jüdische, dem er, wie er sich eingestehen musste, den wohl besten Sex seines Lebens verdankte – mit neunundvierzig
Jahren! – (na ja, wenigstens hatten sie beide währenddessen unablässig gelächelt), sowie das Gefühl, von Geschichte umwogt zu sein, all das machte ihn zu einem unzuverlässigen Zeugen des eigenen Lebens.
Erinnerte er sich noch daran, was wirklich geschehen war?
Er beschloss, zum Ort des Geschehens zurückzukehren, um sich die Ereignisse des Abends noch einmal zu vergegenwärtigen, doch statt bei Libor – er
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