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Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
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mit Libor Sevcik und Sam Finkler, beide seit Kurzem
verwitwet – nein, Officer, ich selbst bin nicht verheiratet –, und mit ihnen über Trauer geredet, über Musik und über Politik im Nahen Osten. Gegen elf Uhr hatte er Libors Wohnung verlassen, noch ein bisschen in den Park geschaut, das Laub gerochen – ob ich das immer tue? Nein, nur manchmal, meist, wenn ich ziemlich aufgewühlt bin –, war am Rundfunkhaus der BBC vorbeispaziert, möge ihr Name verflucht sein, möge sie in ihren Fundamenten erzittern – nur ein Scherz –, und dann in die Richtung weitergegangen, wo sein Vater früher einen bekannten Zigarrenladen besaß – nein, Officer, ich hatte nicht übermäßig viel getrunken –, als ohne jede Vorwarnung …
    Ohne jede Vorwarnung, das war das Schockierende daran, ohne die geringste Vorahnung von drohendem Unheil oder Unbehagen seinerseits, wo er normalerweise doch so ein feines Gespür für Gefahren besaß.
    Falls nicht …
    Falls er nicht doch, als er in die Mortimer Street bog, auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Gestalt im Dunkeln gesehen hatte, wie sie halb aus der Passage vortrat, halb im Schatten lauerte, eine große, aufrechte, aber möglicherweise, ja, möglicherweise durchaus weibliche Gestalt…
    Warum – die Frage blieb hypothetisch: Falls er ihn, es, sie tatsächlich gesehen hatte –, warum hatte er dann nicht besser auf sich achtgegeben, warum hatte er sich Guiviers Schaufenster zugewandt, den schutzlosen Nacken demjenigen präsentiert, der ihm unter Umständen etwas antun wollte, ob nun Mann oder Frau …
    Schuldgefühle.
    Wieder Schuldgefühle.
     
    Aber war es denn wichtig, ob er wen gesehen oder nicht gesehen hatte?
    Doch, das war es. Wenn er sie nämlich gesehen und sie gleichsam aufgefordert hatte, ihn anzugreifen – oder es doch
zumindest ließ –, erklärte dies immerhin, wenigstens zum Teil, was sie gesagt hatte. Er wusste zwar, dass es weder moralisch noch intellektuell akzeptabel war, den Juden vorzuhalten, dass sie ihren eigenen Untergang heraufbeschworen, aber gab es in diesem Volk nicht tatsächlich einen Hang zum Desaster, der von dieser Frau erkannt worden war? Hatte er, mit anderen Worten, den Juden gegeben?
    Und warum hatte er das getan, falls er es denn getan hatte?
    Bei Treslove führte eine Frage stets zur nächsten. Einmal angenommen, er hatte den Finkler gegeben, und weiterhin angenommen, die Frau hatte ihn beobachtet – rechtfertigte das schon ihren Überfall?
    Welche Erklärung ließ sich für sein Handeln finden, welche mögliche Erklärung für ihr Vorgehen? War es denn nicht länger gestattet, den Finkler zu geben, wenn einem danach war? Angenommen, er hätte vor dem Schaufenster von J. P. Guivier gestanden und wie Horowitz ausgesehen, wie Mahler oder, sagen wir, wie Shylock, wie Fagin, Billy Crystal oder David Schwimmer, wie Jerry Seinfeld, Jerry Springer oder Ben Stiller, wie David Duchovny, Kevin Kline, Jeff Goldblum, Woody Allen oder Groucho verdammt noch mal Marx – hätte ihr das als Grund genügt, ihn anzugreifen?
    Kam das Finklerische einer Einladung zum Überfall gleich?
    Bislang hatte er es persönlich genommen – dazu neigt man, wenn man mit Namen angesprochen (zumindest hatte es sich so angehört) und genötigt wird, die Taschen zu leeren – , was aber, wenn er das Opfer eines wahllosen antisemitischen Überfalls geworden war, der nur insofern schieflief, als es sich bei ihm nicht um einen Semiten handelte? Wie viele vergleichbare Vorfälle fanden denn noch statt? Wie viele echte Finkler wurden Nacht für Nacht in der englischen Hauptstadt überfallen? Gleich um die Ecke von der BBC, Herrgott noch mal!

    Er überlegte, wen er fragen konnte. Finkler würde ihm dazu nichts sagen. Und Libor wollte er keine Angst einjagen, indem er ihn fragte, wie viele Juden an einem gewöhnlichen Abend vor seiner Haustür zusammengeschlagen wurden. Ohne damit zu rechnen, nach Chelmno im dreizehnten Jahrhundert noch Nennenswertes zu finden, gab er »antisemitische Vorfälle« ins Internet ein und registrierte verblüfft, dass ihm über hundert Webseiten angezeigt wurden. Zwar waren die Vorfälle nicht gleich alle um die Ecke von der BBC geschehen, doch in weit mehr sogenannten zivilisierten Gegenden der Welt, als er es für möglich gehalten hätte. Eine professionell geführte Webseite bot ihm die Möglichkeit, nach Ländern zu wählen. Er begann mit einer weit entfernten Nation …
    Venezuela:
    Und las, dass in Caracas fünfzehn bewaffnete

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