Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
wollte ihn nicht mit hineinziehen, wollte ihn aus der ganzen Sache rausgehalten, Libor hatte schon genug Probleme – würde er am Tor von Regent’s Park anfangen. In den Wochen seit dem Überfall war es kühler geworden, weshalb er sich nicht so wie in der fraglichen Nacht anziehen konnte. Dick eingemummelt wirkte er ein wenig unförmiger, doch davon einmal abgesehen, könnte ihn seine Angreiferin – Judith, wie er sie nun nannte –, falls sie denn an den Tatort zurückkehrte, durchaus wiedererkennen.
Ihm blieb keine andere Wahl, als sie Judith zu nennen. Hing mit dem kanadischen Sicherheitsbeamten zusammen, der damit gedroht hatte, einem jüdischen Studenten den Kopf abzusäbeln. Judith hieß die Frau, die Holofernes geköpft hatte. Sicher, sie war selbst Jüdin gewesen, doch haftete ihrer Tat ein vergleichbarer Beigeschmack nahöstlicher Gewalt an. Wo Treslove herkam – sparen wir Zeit und nennen es Hampstead –, ließen die Leute selbst ihren Feinden den Kopf auf den Schultern.
Um auf Nummer sicher zu gehen, hatte er Handy und Kreditkarten daheim gelassen.
Was also hatte er vor? Wollte er sie herausfordern? Sich erneut zusammenschlagen lassen? Los, Judith, mach ihn fertig. Hoffte er darauf, dass sie ihn noch einmal ver prügelte? (Was ihr diesmal allerdings, da er vorgewarnt und bewaffnet war, nicht ganz so leicht fallen dürfte.) Oder wollte er sie nur zur Rede stellen, diese Judenhasserin, ihr Aug in Aug gegenüberstehen, um dann das Schicksal seinen Lauf nehmen zu lassen?
Nein, nichts davon, vielleicht aber auch alles zusammen in einem gleichsam detektivischen Sinne.
Irgendwo in einem Hinterstübchen seines verworrenen Geistes nahm der Entschluss Gestalt an, sie festzuhalten, sobald sie sich auch nur zeigte, und ihre Verhaftung zu veranlassen.
Er klammerte sich an das Parktor und sah ins Grüne, roch das Laub. Er konnte nicht auf Kommando wieder beschwipst sein, konnte nicht so tun, als wäre er unbeschwert und unschuldig, als hätte er keinerlei Kenntnis davon, was in Wahrheit alle anderen Gedanken verdrängte. Aber war er zwei Wochen zuvor wirklich unschuldig gewesen? Oder hatte er Ärger gesucht?
Wie er sich erinnerte, war bei Libor Finklerisches zur Sprache gekommen. Er erinnerte sich an das vertraute Gefühl, ausgeschlossen zu sein, daran, die beiden selbst dann noch um ihre animalische Wärme beneidet zu haben, als sie wie üblich über die Finkler-Frage der Stunde stritten und jedes Mal »Ach, das schon wieder« sagten, sobald einer auch nur den Mund aufmachte, als wäre Finklern ein gegenseitiges Misstrauen eingemeißelt wie Souveniersteinen der Name eines Badeortes – das schon wieder, das schon wieder –, was anscheinend aber auch für die gegenseitige Sympathie galt. Er hatte also ihren Ruch an sich gehabt. Jeder, der dafür nichts übrig hatte, hätte diesen besonderen Geruch an ihm wahrnehmen können. Er fragte sich plötzlich, ob er nicht doch erst zu Libor gehen und ein Glas Wein mit ihm trinken sollte. Konnte er denn hoffen, jenen Abend aufs Neue heraufzubeschwören, ohne zuvor nicht wenigstens in Libors Nähe gewesen zu sein?
Er kehrte um und klingelte. Niemand kam an die Tür. Also war Libor ausgegangen, hatte womöglich wieder eine Verabredung und rang sich dazu durch, über Sternzeichen mit einem Mädchen zu reden, das zu jung war, um je von Jane Russell gehört zu haben. Falls er nicht oben zusammengebrochen über dem Bechstein lag, auf den Tasten eine leere Flasche Aspirin
und einen Klavierdraht um den Hals. So hätte er, Treslove, es gemacht, wäre Malkie seine Frau gewesen und er allein auf der Welt zurückgeblieben.
Die Augen füllten sich mit Tränen, als in seinem Kopf Schubert erklang. Warum hatte ihn sein Vater nicht spielen lassen? Was hatte er für seinen Sohn gefürchtet? Morbidität? Finklers Wort. Und was war so schlecht an einem bisschen Morbidität?
Mit Bedacht suchte er sich einen Weg vorbei an den nur imaginären oder auch realen Gefahren beim Rundfunkhaus der BBC und umrundete erneut Nashs Kirche. Er war sich nicht sicher, ob seine Erinnerung an die Route, die er in der Nacht des Überfalls gewählt hatte, auch wirklich exakt war, doch wusste er noch, dass er sich länger bei den Modeläden der Großhandelsketten aufgehalten hatte, dort, wo das Zigarrengeschäft seines Vaters gewesen war, weshalb er es mit der Riding House Street versuchte, um dann durch die Mortimer Street zurück in Richtung J. P. Guivier zu gehen. Er musste nur darauf achten, dass er
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