Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
sich dem Geigengeschäft von der richtigen Seite näherte, und das machte es – wie er meinte – erforderlich, den Weg zurückzugehen, den er gekommen war, und etwas länger in der Regent Street zu verweilen, ehe er aufs Neue abbog. Als er die Regent Street dann hinter sich hatte, ermahnte er sich, sorgsamer auf die Schatten in den Hauseingängen zu achten, als er es üblicherweise tat. Er hielt es zudem für eine gute Idee, verletzlicher als gewöhnlich auszusehen, auch wenn niemand, der ihn kannte, einen Unterschied im Gang oder in seiner generellen Gemütsverfassung bemerkt hätte.
Auf den Straßen herrschte etwa ebenso reger Betrieb wie vor vierzehn Tagen. Derselbe Friseur und dasselbe Dim-Sum-Restaurant hatten noch geöffnet, derselbe Zeitungsladen wurde immer noch renoviert. Bis auf den eisigen Windhauch schienen die Nächte identisch. Treslove schlug das Herz bis zum Hals, als er sich J. P. Guivier näherte. Blöd, natürlich. Die Frau, die ihn überfallen hatte, würde Besseres zu tun haben, als im Schatten
auf die unwahrscheinliche Gelegenheit zu lauern, dass er hierher zurückkehrte. Wozu auch? Seine Wertsachen hatte sie ja schon.
Da aber damals nichts einen Sinn ergeben hatte, bestand kein Grund, warum es diesmal anders sein sollte. Was, wenn sie ihre Tat bereute und ihm seine Wertsachen zurückgeben wollte? Möglicherweise war der Überfall auch nur ein Vorgeschmack auf das gewesen, was ihn jetzt erwartete. Ein Messer ins Herz zum Beispiel. Eine Kugel in den Kopf. Ein Säbel an der Kehle. Zahltag für irgendwas, das er ihr vermeintlich angetan hatte. Oder Zahltag, weil ihr tatsächlich etwas von Finkler angetan worden war, mit dem sie ihn verwechselte.
Diese Möglichkeit fand er beängstigend – nicht jene, mit Sam Finkler verwechselt zu werden, auch wenn das schon ziemlich beleidigend war, sondern für etwas verantwortlich gemacht zu werden, was Finkler getan hatte. Treslove traute ihm durchaus zu, einer Frau wehzutun und sie an den Rand des Wahnsinns zu treiben. Er stellte sich vor, wie es wäre, für Finkler zu sterben, blutend auf dem Bürgersteig zu liegen, unbeachtet, für ein Vergehen zu büßen, das er nicht begangen hatte und niemals hätte begehen können. Angesichts der schrecklichen Ironie des Ganzen drohten seine Beine nachzugeben. Dabei war ein ironisches Ende seines Lebens kein abstraktes Gedankenspiel: Treslove rechnete damit, wie er mit einem aufdringlichen Laternenpfahl oder einem umstürzenden Baum rechnete.
Und sah, wie ihn Passanten mit einem Tritt beiseitestießen wie den Hund eines Juden in Caracas, Buenos Aires, Fontenay-sous-Bois oder Toronto.
Er stand vor dem Schaufenster von J. P. Guivier und bewunderte die Instrumente in ihren Koffern und das Kolophonium, das wie teure Schokolade verpackt und seit seinem letzten Besuch zu einem gefälligen Arrangement neu angeordnet worden war. Eine Hand legte sich ihm auf die Schulter – »Judith!«, schrie er entsetzt –, und das Blut wich ihm aus dem Gesicht.
VIER
1
Etwa zur gleichen Zeit – plus oder minus einer halben Stunde – in einem nahe gelegenen Restaurant – plus oder minus einem halben Kilometer – bezahlten Tresloves Söhne die Rechnung fürs Abendessen. Sie waren in Begleitung ihrer Mütter. Die beiden Frauen trafen sich nicht zum ersten Mal, obwohl sie in den Monaten, in denen sie mit Ralph respektive Alf schwanger gewesen waren, nichts voneinander gewusst hatten, übrigens auch nicht in den Jahren, die der Geburt ihrer Söhne folgten.
Treslove war kein Finkler. Er konnte sein Herz nicht an mehrere Frauen zugleich verlieren. Dafür liebte er viel zu hingebungsvoll. Allerdings wusste er meist, wann man ihm die Tür weisen würde, weshalb er, soweit möglich, stets rechtzeitig dafür sorgte, aufs Neue hingebungsvoll lieben zu können. Folglich passierte es hin und wieder, dass sich Alt und Neu kurzfristig überlappten. Aus Prinzip sagte er den sich überlappenden Parteien davon nichts – weder der, die ihn noch nicht ganz verlassen hatte, noch jener, die ihren Platz noch nicht ganz eingenommen hatte. Seiner Meinung nach litten Frauen auch so schon genug, weshalb er es unnötig fand, ihnen zusätzlich wehzutun. Auch darin unterschied er sich in seinen Augen von Finkler, der sich offenbar keine Mühe machte, seine Affären vor seiner Gattin zu verbergen. Treslove beneidete ihn um seine Geliebten, fand sich aber damit ab, dass sie für ihn unerreichbar blieben. Selbst Ehefrauen blieben für Treslove unerreichbar.
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