Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
würde dem Kleinen in der Wiege Opern vorspielen und ihm
das Köpfchen mit Bildern von nervenzerrütteten, kaltfingrigen Frauen füllen.«
»Ging mir auch so«, sagte Josephine, dachte dabei allerdings, dass das Köpfchen eines Kindes, das Janice zur Mutter hatte, mit Bildern von nervenzerrütteten, kaltfingrigen Frauen geradezu vollgestopft sein musste.
»Die Romantiker sind immer die Schlimmsten, findest du nicht?«
»Ganz genau. Man sollte sie verscheuchen. Wie Blutegel.«
»Nur lassen sich Blutegel nicht verscheuchen. Die muss man abbrennen.«
»Richtig. Oder mit Alkohol beträufeln. Aber du weißt, was ich meine. Ständig sagen sie dir, wie unsterblich sie in dich verliebt sind, während sie sich bereits nach der Nächsten umsehen.«
»Ja, in Gedanken haben sie ihre Koffer immer schon gepackt. «
»Eben, nur habe ich meine zuerst gepackt.«
»Ich meine auch.«
»Meine Güte, und diese Opern! Wenn ich an all das Sterben auf dem Plattenspieler denke …«
»Ich weiß. ›Ach Gott, so jung zu sterben!‹ Das höre ich nicht nur, ich kann das Totenbett sogar riechen. Immer noch. Bis auf den heutigen Tag. Manchmal denke ich, er übt selbst aus der Distanz noch seinen schwindsüchtigen Einfluss aus.«
»Puccini?«
»Nein, Julian. Übrigens war das Verdi. Du hattest Puccini.«
»Wie macht er das bloß?«
»Puccini?«
»Nein, Julian.«
»Mir schleierhaft.«
So trafen sie sich alle zwei, drei Jahre unter dem Vorwand von Alfs oder Ralphs Geburtstag, oder es musste irgendein anderer Jahrestag herhalten, die Trennung von Treslove etwa, ganz
egal, wer sich nun zuerst von ihm getrennt hatte. Diesen Brauch hielten sie selbst dann noch bei, als die Jungen längst erwachsen und aus dem Haus waren.
Wie es gegenwärtig ihrer Gewohnheit entsprach, hatten sie es am heutigen Abend vermieden, Treslove auch bloß beim Namen zu nennen, da er selbst an den besten Tagen oft mehr Gesprächszeit in Anspruch nahm, als er es verdient hatte, und er ihnen darüber hinaus durch seine berufliche Tätigkeit peinlich geworden war. Mochte noch so viel Wasser unter der Brücke durchfließen, Treslove blieb Alfs und Ralphs Vater, nur wäre es den beiden Frauen lieber gewesen, der Vater ihrer Söhne hätte es in seinem Leben zu mehr gebracht, als der Doppelgänger berühmter Leute zu sein.
Während sie sich die Mäntel anzogen, nahm Josephine Janices Jungen beiseite und fragte Rodolfo: »Hast du in letzter Zeit etwas von deinem Papa gehört?« Offenbar war es ihr unmöglich, diese Frage dem eigenen Sohn zu stellen.
Er schüttelte den Kopf.
»Und was ist mit dir?«, fragte Janice Alfredo.
»Tja«, sagte Alfredo, »schon komisch, dass du ihn erwähnst …«
Und da mussten sie den Kellner fragen, ob es ihm etwas ausmachte, wenn sie sich wieder setzten.
2
»Wer ist diese Judith?«
Hätten Tresloves Beine wie befürchtet unter ihm nachgegeben, hätte Libor Sevcik wohl kaum die Kraft besessen, ihn wieder aufzurichten.
»Libor!«
»Habe ich dich erschreckt?«
»Was glaubst du denn?«
»Ich habe die falsche Frage gestellt. Wie kommt es, dass ich dich erschreckt habe?«
Treslove wollte auf seine Armbanduhr sehen, doch dann fiel ihm ein, dass er ja keine Armbanduhr mehr hatte. »Es ist mitten in der Nacht, Libor«, sagte er, als läse er das von seinem leeren Handgelenk ab.
»Ich schlafe schlecht«, sagte Libor. »Du weißt doch, dass ich schlecht schlafe.«
»Ich wusste nicht, dass du dann durch die Straßen wanderst.«
»Tja, tue ich normalerweise auch nicht. Nur wenn es schlimm ist. Heute war es schlimm. Und gestern Nacht. Ich wusste übrigens auch nichts davon, dass du nachts durch die Straßen wanderst. Warum hast du nicht geklingelt? Wir hätten zusammen spazieren gehen können.«
»Ich gehe nicht spazieren.«
»Wer ist Judith?«
»Keine Ahnung. Ich kenne keine Judith.«
»Du hast ihren Namen genannt.«
»Judith? Da musst du dich irren. Vielleicht habe ich Jesus gesagt. Immerhin hast du mich erschreckt.«
»Wenn du nicht spazieren warst und keine Judith erwartet hast – was hast du dann getan? Dir ein Cello ausgesucht?«
»Ich schaue immer gern in dieses Fenster.«
»Ich auch. Malkie hat mich einmal hergeführt, um meine Geige schätzen zu lassen. Das Geschäft gehört zu unseren Kreuzwegstationen. «
»Du glaubst ans Kreuz?«
»Nein, aber ans Leid.«
Treslove berührte seinen Freund an der Schulter. Libor wirkte heute Nacht kleiner, als er ihn in Erinnerung hatte, so als würde die Straße irgendwie weniger
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