Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
dass Tyler in letzter Zeit auch zu viel von allem zeigte. Und sie war eine Mutter.
Er blinzelte Alfredo kein einziges Mal durch den Speisesaal zu und nahm ihn am Ende des Abends auch nicht beiseite, um ihm einen Fünfzig-Pfund-Schein in die Brusttasche seines Dinnerjackets mit der Bitte zu stecken, das hier, er wisse schon, möge unter ihnen bleiben. Als Vertreter der praktischen Philosophie interessierte sich Finkler brennend für die Etikette von Treulosigkeit und Falschheit, weshalb er es unangemessen fand, sich mit dem Sohn eines alten Freundes auf Männerbündeleien einzulassen, ebenso wenig übrigens, wie es ihm behagte, Alfredo Einblick darin zu gewähren, wie die ältere Generation Ehebruch beging, sei dies nun lachhaft oder nicht. Er hatte »ähm« gesagt, das musste reichen, dann aber trafen sie sich zufällig auf der Toilette.
»Wieder ein Abend im Copacabana rumgebracht«, sagte Alfredo müde, zog den Reißverschluss zu und gelte sich vor dem Spiegel das Haar. Kaum war er damit fertig, setzte er sich einen flachen, runden Filzhut auf, der schlagartig jede Erinnerung an Berlin verdrängte und Finkler an Bermondsey denken ließ.
Seines Vaters Sohn, dachte Finkler, unverkennbar, kann wie jedermann und niemand aussehen.
»Gefällt dir der Job nicht?«
»Ob er mir gefällt? Versuch mal, Klavier vor Leuten zu spielen, die zum Essen herkommen. Oder zum Sterben. Oder zu beidem. Die sind viel zu sehr damit beschäftigt, auf ihre Mägen zu lauschen, als dass sie auch nur einen Ton von dem hören könnten, was ich spiele. Denen ist völlig schnuppe, ob ich ihnen Rossini oder Crostini vorsetze. Ich produziere Hintergrundgeräusche. Weißt du, womit ich mir beim Spielen die Zeit vertreibe? Ich
denke mir Geschichten über die Hotelgäste aus. Der da vögelt mit der, die mit dem – was übrigens gar nicht mal so leicht ist in einer Absteige wie der hier, in der die meisten Leute keinen Sex mehr hatten, seit ich auf der Welt bin.«
Finkler verkniff sich die Bemerkung, dass er wohl eine Ausnahme von der Regel war. »Man merkt dir deine Unzufriedenheit nicht an«, log er.
»Ja? Nur, weil ich mich verdrücke. Ich bin woanders. In Gedanken spiele ich im Caesar’s Palace.«
»Tja, auch das merkt man dir nicht an.«
»Es ist ein Job.«
»Letztlich machen wir alle nur einen Job«, erwiderte Finkler, als spräche er vor laufender Kamera.
»So siehst du deine Arbeit?«
»Im Großen und Ganzen, ja.«
»Wie traurig. Du also auch.«
»Genau wie du, meinst du?«
»Ja, genau wie ich, aber ich bin noch jung. Noch kann alles Mögliche passieren. Vielleicht spiele ich eines Tages sogar im Caesar’s Palace. Aber ich meinte eigentlich, wie traurig für meinen Dad.«
»Ist er unglücklich?«
»Was glaubst du denn? Du kennst ihn doch schon seit einer Ewigkeit. Macht er auf dich einen zufriedenen Eindruck?«
»Nein, aber das hat er noch nie getan.«
»Hat er nicht? Nie – ha! Das passt. Jung kann ich ihn mir überhaupt nicht vorstellen. Mir kommt er wie jemand vor, der schon immer alt gewesen ist.«
»Kannst du mal sehen«, erwiderte Finkler, »für mich ist er ein Mann, der immer jung geblieben ist. Hat sicher damit zu tun, wann man jemanden kennenlernt.«
Alfredo rollte unter seiner Kreissäge mit den Augen, als wollte er sagen: »Komm mir bloß nicht philosophisch, Onkel Sam.«
Doch er sagte: »Wir verstehen uns nicht besonders gut – ich glaube, er mag meinen Halbbruder lieber –, aber mit seiner blöden Doppelgängerei tut er mir leid, vor allem, wenn es ihm mit seinem Job so geht wie mir mit meinem.«
»Ach, was, in deinem Alter ist das Glas doch noch halb voll.«
»Nein, in deinem Alter ist das Glas halb voll, in meinem will man kein halbes Glas, weder halb voll noch halb leer. Eigentlich wollen wir überhaupt kein Glas, Schluss, aus, Ende. Wir wollen einen Humpen, einen, der überquillt. Wir sind die Hab-alles-Generation, schon vergessen?«
»Nein, wir sind die Hab-alles-Generation.«
»Tja, dann sind wir die angepisste Generation.«
Finkler lächelte und sah bereits ein neues Buch vor sich. Das Glas halb leer: Schopenhauer für Komasuff-Teenies .
Mit zynischer Berechnung hatte das nichts zu tun. Finkler spürte gleichsam stellvertretend ganz unerwartet elterliche Gefühle für diesen Jungen in sich aufwallen.
Vielleicht kam wieder hoch, was er vor all den Jahren für Treslove empfunden hatte. Eine Usurpationsekstase möglicherweise – die Freude, die auf kommt, wenn man sich als Vater fremder
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