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Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
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gehört hatte. »Du Jud.« Nicht »du verdammter Jud, du« oder »du dreckiger Jud« oder »du lieber Jud«, einfach nur »du Jud«. Und gerade das Seltsame dieser Äußerung bewies letztlich, dass sie stimmte. Warum sollte er sich so etwas ausdenken? »Du Jud, du«, schlicht und einfach – »du reiner, ungeschminkter Jude« –, sprach für keine Theorie oder Vermutung, war keine Reaktion auf ein Bedürfnis, das Treslove in sich ausmachen konnte. Diese Bemerkung bewies nichts, löste nichts, erfüllte nichts.
    Treslove kannte die Gegenargumente. Er hatte sie aus einer Not heraus erfunden. Und was sollte das für eine Not sein?
    Gerade die Willkür war ein Beweis der Echtheit. Seine Psyche war frei von jeglichem Verlangen, sich von ihrer Bemerkung auch nur die geringste Belohnung zu versprechen. Blieb noch die Attentäterin selbst. Hatte sie ihn schlicht aus einer Laune heraus »Jud du« genannt? Nein, er wurde »Jud du« genannt, weil sie einen Juden gesehen hatte. Warum sie ihm allerdings sagen sollte, was sie sah, war eine andere Frage. Eigentlich hätte sie
überhaupt nichts zu sagen brauchen. Sie hätte seine Wertsachen nehmen und wortlos verschwinden können. Schließlich hatte er sich nicht gerade gewehrt. Oder ein Dankeschön erwartet. Die meisten Straßenräuber, zumindest nahm er dies an, identifizierten beim Ausrauben wohl kaum ihre Opfer. Du Protestant, du Chinese. Warum sich die Mühe machen? Man durfte davon ausgehen, dass Protestanten und Chinesen wussten, wer sie waren, das brauchte ihnen der Straßenräuber nicht erst zu sagen. Also war »du Jud« entweder Ausdruck einer unbezwingbaren Wut, oder die Worte dienten der Information. »Ich habe mir deine Uhr, deine Brieftasche, deinen Füller, dein Handy und deine Selbstachtung genommen – kurzum, deine Juwelen –, dafür gebe ich dir aber auch etwas: Nur für den Fall, dass du es noch nicht wissen solltest, und ich habe da insgeheim so ein leises Gefühl (frag mich nicht, wieso), dass du es noch nicht weißt, aber: Du bist ein Jude.
    Tschüss.«
    Treslove wollte einfach nicht glauben, dass er einem Menschen begegnet war, der eine Schraube locker hatte, oder dass er nur zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Er hatte genügend Missgeschicke erlebt. Sein ganzes Leben war ein Missgeschick. Seine Geburt war ein Missgeschick – seine Eltern hatten es ihm erzählt: »Du warst nicht geplant, Julian, aber du warst eine nette Überraschung.« Genau wie seine eigenen Söhne. Nur hatte er denen nie gesagt, dass sie eine nette Überraschung gewesen waren. Sein modularer Abschluss war ein Missgeschick; in einem anderen Leben hätte er Altphilologie oder Theologie studiert. Die BBC war ein Missgeschick, ein böses Missgeschick. Die Frauen, die er geliebt hatte, waren ein Missgeschick gewesen. Warum aber das Leben leben, wenn ihm keine Spur von Bedeutung anhaftete? Manche Menschen finden zu Gott, wenn sie am wenigsten damit rechnen. Manche finden den Sinn ihres Lebens in Sozialarbeit oder Selbstaufopferung. Solange Treslove
zurückdenken konnte, hatte er sich in Bereitschaft geübt. Na schön, dachte er, und jetzt ruft mich mein Schicksal.
    Zwei Abende später dinierte er mit einigen Glaubensgenossen in Libors Wohnung.
    2
    Ein halbes Jahr vor dem Tod seiner Frau nahm Sam Finkler die Einladung an, als Gast in der Radiosendung Desert Island Discs aufzutreten und ein Buch sowie acht Musikstücke vorzustellen, die er auf eine einsame Insel mitnehmen würde.
    Es wäre grausam, wollte man annehmen, dass die beiden Ereignisse in mehr als nur einem zufälligen Zusammenhang stünden.
    Als Finkler die Einladung zur Sprache brachte, saßen sie im Garten; nur ein niedriges Tor trennte sie von der Heide. Hätte er nicht über die Einladung geredet, hätte er Tyler beim Pflanzen helfen müssen. Ihr Garten galt ihm schon seit Langem als ein Bereich der Nicht-Entspannung, da Tyler ständig darin herumwerkelte und Finkler unter allergischen Reaktionen auf Rasen, Blumen und die Vorstellung litt, das Leben leichtzunehmen. »Man nennt das einen Liegestuhl – also leg dich hin!«, pflegte Tyler ihn anzuherrschen, nur um dann festzustellen, was er längst wusste – sein Körper war nicht dazu geschaffen, in einem Liegestuhl zu liegen. »Es kommt eine Zeit, da werde ich noch lang genug liegen«, lautete stets seine Antwort. Also wagte er sich entweder gar nicht hinaus in den Garten, oder er pirschte an seinen Grenzen entlang wie ein Privatdetektiv, der die Büsche

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