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Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
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erwartest?«
    Libor trug einen grauen Anzug mit grauen Streifen und einen grauen Anwaltsschlips. So viel Grau in Grau machte ihn fast unsichtbar. Treslove tat, als sähe er in Libors Jackett nach, wohin er verschwunden war.
    Libor nickte. »Bist du nicht überrascht?«

    »Von deinem Anzug? Ja, vor allem von der Tatsache, dass dir die Hosenbeine bis auf die Schuhe reichen.«
    »Ich schrumpfe, mehr hat’s nicht zu bedeuten. Schön, dass es dir auffällt, aber ich meinte eigentlich, ob es dich nicht überrascht, dass wir Seder im September abhalten.«
    »Wieso? Wann sollte man denn sonst Seder feiern?«
    Libor sah ihn von der Seite an, als wollte er sagen: So viel zu deinem Judentum. »März, April – irgendwann um Ostern. Hat was mit dem Mond zu tun.«
    »Also feiert ihr es früher? Mir zuliebe?«
    »Wir feiern nicht früher, sondern später. Ich habe eine im Sterben liegende Uruurur irgendwas. Schwer zu glauben, ich weiß. Sie muss um die hundertvierzig sein. Jemand von Malkies Seite der Familie. Beim diesjährigen Seder ging es ihr nicht so gut, und sie fürchtet nun, dass sie für den nächsten Seder nicht mehr lang genug leben wird. Also veranstalten wir ihn für sie ein letztes Mal, ehe sie von uns geht.«
    Treslove berührte Libor am grauen Ärmel. Der Gedanke, etwas finde zum letzten Mal statt, machte ihm unweigerlich zu schaffen. »Darf man das denn?«
    »In den Augen eines Rabbis vielleicht nicht, aber ich finde das unwichtig. Man feiert Seder, wenn einem danach ist. Könnte ja ebenso gut mein letzter sein.«
    Treslove ging darauf nicht ein. »Werde ich alles verstehen?«
    »Nicht alles; wir machen Seder im Schnelldurchlauf. Rasch, solange noch Leben in uns steckt.«
    Und während die alte Dame den letzten Seder ihres Lebens verschlief, verbeugte sich Treslove vor den versammelten Gästen, sagte nichts und setzte sich zu seinem ersten Seder an den Tisch.
     
    Er kannte die Geschichte. Wer kennt sie nicht? Treslove kannte sie, weil er während seiner Schulzeit in Händels Israel in Ägypten
mitgesungen hatte, einer unnötig opulenten Inszenierung, deren Finanzierung Finklers Vater unterstützte, indem er für die Kostüme auf kam und jedes Mitglied des Ensembles mit einem Satz seiner Wunderpillen versorgte, auch wenn die Kostüme nur von Finklers Mutter umgenähte Bettlaken waren und sie von den Tabletten alle Durchfall bekamen. Was Treslove sang, behielt er in Erinnerung … Der neue Pharao, der Joseph nicht kannte und über Israel Fronvögte setzte, die sie drückten mit Arbeit und mit Diensten unbarmherzig. Und die Kinder Israel schrien in ihrer harten Knechtschaft – er hatte es geliebt, im Chor gegen diese harte Knechtschaft anzuschreien –, Moses und Aaron, die Er erwählet hatte, zu tun Wunder unter ihnen, und verwandelten den Strom in Blut, woraufhin Frösche ohne Zahl selbst in des Königs innerste Gemächer drangen, schwarze Blattern die Haut verzehrten und eine dicke Finsternis sich über all das Land legte, »eine Finsternis, die man fühlen konnte«. Im Chor hatten sie dabei die Augen geschlossen und die Hände ausgestreckt, als ertasteten sie das Dunkel. Es war eine Dunkelheit, die Treslove, wenn er seine Augen schloss, immer noch zu fühlen meinte. Kein Wunder, dass Ägypten froh war, den Auszug der Israelis zu erleben, denn das Volk »fürchtete sich vor ihnen« … Job erledigt, wie er fand.
    Dann aber kam Teil zwei, in dem es hauptsächlich um die Kinder Israel ging, die Gott sagten, was Er für sie getan hatte und dass es keinen gab, der Ihm gleich war.
    Treslove wusste noch, dass er Finkler nach dem Konzert gefragte hatte: »Seid ihr deshalb von eurem Gott verlassen worden? Weil er sich mit euch zu Tode gelangweilt hat?«
    »Gott hat uns nicht verlassen«, hatte ihm Finkler wütend geantwortet. »Komm mir bloß nicht gotteslästerlich.«
    Das waren noch Zeiten!
    Als Treslove sah, dass man rings um ihn in Büchern von rechts nach links las, fiel ihm Finklers Schulhofprahlerei wieder
ein: »Wir können Bücher von beiden Enden lesen«, hatte er Treslove gesagt, der sich nicht einmal ansatzweise vorzustellen vermochte, wie so etwas möglich sein sollte und welche Macht der Nekromantie, welch geheimes Wissen nötig sein mussten, um derlei zu bewirken. Zudem nicht bloß irgendein altes Buch, sondern Bücher, die in so alter Schrift geschrieben waren, dass sie mit scharfem Stein in Fels geritzt gehörten, nicht bloß rückwärts auf Papier geschrieben. Kein Wunder, dass Finkler nicht

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