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Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
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unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten?
    Warum essen wir in dieser Nacht besonders bittere Kräuter? Warum müssen wir unser Essen in dieser Nacht zwei Mal eintauchen?
    In allen anderen Nächten speisen wir sowohl aufrecht sitzend als auch angelehnt – warum speisen wir in dieser Nacht alle angelehnt?«
    Es fiel ihm schwer, den Antworten zuzuhören. Das Vorlesen hatte ihn befangen gemacht. Woher sollte er wissen, wie man jüdische Fragen in einem Raum voller Juden stellte, die er nie zuvor gesehen hatte? Waren die Fragen rhetorisch gemeint? Waren sie ein Witz? Hätte er sie stellen sollen, wie sie Jack Benny oder Shelley
Berman gestellt hätten, die bitteren Kräuter komisch betont? Oder hätte er sie übertrieben betonen müssen, um das Ausmaß des jüdischen Leids zu unterstreichen? Juden neigten zur Übertreibung. Hatte er übertrieben genug vorgelesen?
    »Biii … ttaare« – was, wenn er so hätte sprechen sollen, mit theatralischem Schauder, etwa wie Donald Wolfit in Hamlet den Geist des Vaters spielte?
    »So werden die aber nicht gelesen«, rief die alte Dame, noch ehe er die erste Frage gestellt hatte. Doch sah man einmal davon ab, dass einige »Pssst, Mutter« riefen, nahm niemand weiter Notiz von ihr. Allerdings applaudierte ihm auch niemand.
    Falls die Antworten auf die Fragen denn auf irgendetwas hinausliefen, dann darauf, dass diese Geschichte erzählt und immer wieder erzählt werden sollte – »Je mehr man über den Auszug aus Ägypten redet, umso besser«, las er. Was, sofern er Finkler richtig verstand, ganz und gar nicht dessen Position entsprach. »Ach, das schon wieder, Holocaust, Holocaust«, hörte er Finkler sagen. Würde er auf Pessach genauso reagieren? »Ach, schon wieder Exodus, Exodus …«
    Treslove gefiel der Gedanke, etwas immer wieder zu erzählen; seinem obsessiven Charakter kam das entgegen. Ein weiterer Beweis, falls weitere Beweise denn noch nötig waren …
    Die Andacht – sofern dies das richtige Wort für eine derart formlose Veranstaltung mit so vielen Unterbrechungen war – ging ihren schleppenden Gang. Einige Grüppchen machten einander auf bestimmte Stellen aufmerksam, als gehörte es zum Vergnügen des Abends, den Anschluss zu verlieren und sich beim Zurechtfinden helfen zu lassen; manche gaben sich Gesprächen hin, deren Themen Tresloves Meinung nach nichts mit dem Abend zu tun hatten, und der ein oder andere nickte ein oder verließ den Tisch, um eine von Libors vielen Toiletten aufzusuchen und erst wiederzukommen, als die Juden Ägypten längst verlassen hatten, während ein, zwei Gäste ins Leere stierten,
ohne dass Treslove hätte sagen können, ob sie fünftausend Jahre zurück an den Auszug ihres Volks aus Ägypten oder an das eigene Dahinscheiden in nächster Zukunft dachten.
    »Hier sind nicht genug Kinder«, sagte ein alter Mann, der Treslove gegenübersaß. Seine Haut war schlaff und abgewetzt; unter einem Schock übertrieben schwarzer Haare funkelte er den Tisch an, als hätte ihm jeder Anwesende auf die ein oder andere Weise übel mitgespielt.
    Treslove sah sich um. »Ich glaube, es sind gar keine Kinder hier«, erwiderte er.
    Der alte Mann starrte ihn wütend an. »Das habe ich doch gerade gesagt. Warum hörst du nicht zu, wenn ich was sage? Es sind keine Kinder hier.«
    Zum Pessachmahl, offenbar dem Ende aller Liturgie, kamen die Gäste wieder an den Tisch. Treslove aß, was ihm vorgesetzt wurde, erwartete aber nicht, dass es ihm schmeckte. Zwischen zwei Scheiben Matze gek latschte bittere Kräuter – »Um uns an die bitteren Zeiten zu erinnern, die wir durchgemacht haben«, sagte jemand, der jetzt auf dem Platz der Frau saß, die ihm mit den vier Fragen geholfen hatte. »Und immer noch durchmachen, soweit es mich betrifft«, sagte jemand anderes; einer Erklärung, der ein dritter Gast widersprach, der meinte: »Unsinn, das soll an den Zement erinner n, mit dem wir die Pyramiden gebaut haben – mit bloßen Händen.« Anschließend gab es Ei in Salzwasser (»Das symbolisiert unsere Tränen; die Tränen, die wir vergossen haben«), dann Hühnersuppe mit knejdl und danach noch mehr Hühnersuppe, diesmal mit Kartoffeln, ein Gericht, das, soweit Treslove wusste, gar nichts symbolisierte. Das gefiel ihm. Essen, das nichts symbolisierte, war leichter zu verdauen.
    Libor kam und fragte, wie er zurechtkomme. »Magst du Hühnersuppe?«, fragte er.
    »Ich mag alles, Libor. Hast du selbst gekocht?«

    »Ich habe ein Team von Frauen. Hühnersuppe

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