Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
träumte – er hatte in seinem Kopf keinen Platz für Träume.
Libor hatte Treslove wortlos mitten an einem langen Tisch Platz nehmen lassen, an dem schon etwa zwanzig Gäste saßen, den Kopf über Bücher gebeugt, in denen sie von rechts nach links lasen. Treslove saß zwischen einer älteren und einer jüngeren Frau – jünger, gemessen am Durchschnittsalter der Versammlung. Dachte er sich die Falten der Älteren und die Speckrollen der Jüngeren weg, könnten sie nahe Verwandte sein. Irgendwas an der Art, wie sie sich über den Tisch beugten – wie Vögel. Bestimmt waren sie Großmutter und Enkelin, vielleicht trennte sie aber auch noch eine weitere Generation, nur wollte Treslove ihnen nicht allzu neugierig in die Gesichter starren, solange sie sich in die Geschichte von der Errettung des jüdischen Volkes vertieften. Von einem allerdings konnte er den Blick kaum abwenden, von dem Buch nämlich, in dem die ältere Frau las. Es schien ein Kinderbuch mit Aufklapp- und Ausziehbildern zu sein, und er schaute fasziniert zu, wie sie das Lesen zum Kinderspiel machte, wie sie auf einer Seite ein Rädchen drehte, das die endlosen Folterqualen anzeigte, unter denen die Tag und Nacht schuftenden Israeliten litten, mal unter brennender Sonne, mal unter eisigem Sichelmond, während auf der gegenüberliegenden Seite Frösche zu sehen waren, schwarze Blattern und eine Dunkelheit, so dick, dass man sie fühlen konnte.
Als man zum Zug durch das Rote Meer kam, zog die alte Dame an einer Lasche und, schwups!, wurde dort, wo die Israeliten
gerade noch das Meer sicher durchquert hatten, der Feinde Schar von den Fluten überwältigt, »dass auch nicht einer übrig blieb«. Wieder und wieder zog sie an der Lasche, und immer wieder aufs Neue ertranken die Ägypter.
Da red mir einer von Unverhältnismäßigkeit, dachte Treslove, dem einfiel, was er kürzlich von Finkler über Juden gelesen hatte, die zwei Augen für eines nahmen. Als er aber das nächste Mal hinschaute, zupfte die alte Dame verärgert an einer neuen Lasche, woraufhin ein kleiner Junge mit Kippa unterm Tisch verschwand und mit einem Stückchen Matze wieder auftauchte. Auch das ließ sie wieder und wieder geschehen. Also fand sie Vergnügen an der Wiederholung, nicht an der Rache.
Er blickte sich um, erstaunt darüber, wie anders Libors Tisch heute aussah als noch zu Malkies Zeit, anders sogar als an dem Tag, an dem er zuletzt mit Finkler hier gewesen war. So viele Finkler – wenn auch ohne Sam Finkler –, so viele Speisen, die er nicht kannte, so viele ältere Leute, versunken im Gebet, was sich nicht immer deutlich von einem Schwätzchen oder Nickerchen unterscheiden ließ.
Und dann wurde er auch schon gebeten, da er unter den anwesenden Männern der jüngste war – »Ich?«, fragte er erstaunt –, die vier Fragen vorzulesen.
»Ich würde ja, wenn ich könnte«, antwortete er. »Ich hätte sogar noch viel mehr als nur vier Fragen, aber ich kann kein Hebräisch lesen.«
»Verkehrte Reihenfolge«, sagte die alte Dame, ohne den Blick von ihrem Buch zu heben. »Über die vier Fragen sind wir längst hinaus. Nie halten wir uns in dieser Familie an die richtige Reihenfolge. Alles läuft falsch. Wer ist der Junge überhaupt? Noch eines von Bernices Kindern?«
»Bernice ist vor dreißig Jahren gestorben, Mutter«, sagte jemand am anderen Ende des Tisches.
»Dann sollte er nicht hier sein«, gab die alte Dame zurück.
Treslove wunderte sich, was er in Gang gesetzt hatte.
Die Enkelin – zumindest hielt er sie dafür, aber vielleicht war sie ja auch die Urenkelin – berührte sanft seine Hand. »Gar nicht hinhören«, flüsterte sie. »An Seder ist sie immer so. Sie liebt Seder, aber es macht sie wütend. Sind wahrscheinlich die Plagen. Sie fühlt sich deshalb ein wenig schuldig. Aber Sie brauchen nicht Hebräisch lesen zu können. Sie dürfen die vier Fragen auch auf Englisch stellen.«
»Aber ich kann nicht von rechts nach links lesen«, flüsterte Treslove.
»Wenn Sie Englisch lesen, müssen Sie das auch nicht.«
Sie schlug die Haggada auf der entsprechenden Seite auf und zeigte ihm die Stelle.
Treslove blickte hinüber zu Libor, der ihm zunickte und sagte: » Also stell die Fragen«, wobei er das Gesicht verzog, bis er einem alten Theaterisraeliten glich. »Du bist doch der Judenbub«, lautete die Botschaft, die Treslove darin las, »also stell die Fragen.«
Und sehr verlegen, mit klopfendem Herzen, tat Treslove, worum er gebeten worden war.
»Was
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