Die Flamme von Pharos
würde er Gespenster sehen. »Sarah«, wiederholte er, und diesmal klang seine Stimme nicht mehr vorwurfsvoll oder anklagend, sondern nach mühsam beherrschter Panik. »Was hast du nur getan, Kind? Was hast du nur getan?«
Die Falten im wettergegerbten Gesicht des Archäologen schienen sich schlagartig zu vermehren, wachsendes Entsetzen zeichnete sich auf seinen Zügen ab, während ihm nach und nach klar zu werden schien, was die Anwesenheit seiner Tochter an diesem tristen Ort bedeutete.
»Nein«, rief er und wich zurück, hob abwehrend die Arme, als wären Sarah und ihre Gefährten nur eingebildete Schemen. Er wandte sich ab und stürzte davon, zurück in das schützende Dunkel.
Sarah wusste nicht, was sie von dieser Reaktion halten sollte. Einen Augenblick zögerte sie, schickte du Gard einen hilflosen Blick. Dann eilte sie dem alten Gardiner hinterher.
»Vater! Warte auf mich …!«
Ohne sich auch nur einmal nach ihr umzudrehen, zog Lord Kincaid sich in den hintersten Winkel des Gewölbes zurück, wohin kaum noch Fackelschein drang, der Gestank jedoch weniger beißend war. Schmollend wie ein Kind kauerte er sich auf den Boden. Neben ihm war undeutlich eine zweite Gestalt auszumachen, um die Sarah sich jedoch im Augenblick nicht scherte.
»Was soll das, Vater?«, stellte sie ihn streng zur Rede. »Warum läufst du vor mir davon?«
»Weil du nicht hier sein solltest«, lautete die ebenso lapidare wie barsche Antwort. »Weil du nicht hier sein darfst.«
»Ich verstehe nicht, was du damit meinst. Was bedeutet das?«
»Es bedeutet, was es bedeutet. Dass du nicht hier sein dürftest. Dass es so nicht geplant war …«
»Nicht geplant? Von wem? Von dir?« Trotzig stemmte Sarah die Arme in die Hüften. Mit vielem hatte sie gerechnet, aber ganz sicher nicht mit einer solch eigenartigen Begrüßung. Die Freude des alten Gardiner darüber, seine Tochter zu sehen, schien rasch verflogen zu sein. »Was soll das heißen, Vater? Verdammt noch mal, sprich mit mir! Nach allem, was ich auf mich genommen habe, um hierherzukommen, kann ich zumindest das verlangen …«
Sie wartete, aber die einzige Antwort, die sie von Gardiner Kincaid erhielt, war ein heiseres Husten. Undeutlich konnte sie sehen, wie er sich augenscheinlich vor Schmerzen krümmte.
»Vater?« Sie kniete sich neben ihn. »Vater, was ist mit dir? Bist du in Ordnung …?«
»Sei unbesorgt, mein Kind«, sagte die andere Gestalt, die bislang reglos im Dunkel gekauert hatte, und beugte sich vor. Erst als ihr Gesicht dicht vor dem ihren schwebte, erkannte Sarah, dass es sich um Mortimer Laydon handelte, den königlichen Leibarzt aus London, der zugleich der engste Freund ihres Vaters und ihr Pate war.
»O-Onkel Mortimer«, entfuhr es ihr verwundert, als sie die vertrauten, von einem Backenbart umrahmten Züge erkannte, »ich wusste nicht, dass du auch hier bist. In Paris stieß ich auf deinen Namen, aber ich hätte nicht gedacht, dass …«
»Kein Gentleman, der etwas auf sich hält, würde einem Freund Hilfe gerade dann verweigern, wenn er sie am nötigsten braucht«, erwiderte Laydon leise. »Dein Vater bat mich, ihn auf dieser Reise zu begleiten, also bin ich hier.«
»Was fehlt ihm?«, fragte Sarah mit Blick auf ihren Vater, der sich inzwischen wieder gefangen hatte. Keuchend und geschwächt lehnte er an der Felswand, an der mit leisem Plätschern Wasser herabtropf.
»Seine Lunge macht ihm ebenso zu schaffen wie allen anderen hier«, erklärte Laydon schlicht. »Angesichts der verheerenden Örtlichkeit ist das kein Wunder.«
»Wie lange seid ihr schon hier?«, wollte Sarah wissen.
»Vier Wochen. In dieser Zeit haben wir kaum Tageslicht zu sehen bekommen. Nur ab und zu holen sie uns, um uns zu verhören – allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz hält man uns noch immer für britische Spione.«
»Was ist mit den übrigen Teilnehmern der Expedition passiert?«
»Tot oder geflohen«, erklärte Gardiner Kincaid keuchend. »Nur Mortimer und ich wurden gefangen genommen. Wem wir dieses zweifelhafte Glück zu verdanken haben, weiß allein der Himmel.«
»Vielleicht wollten sie Sie als Geiseln behalten«, gab Maurice du Gard zu bedenken, der Sarah zusammen mit den anderen gefolgt war.
»Dann hätten sie auch die anderen nicht töten dürfen«, erwiderte Lord Kincaid, »schließlich waren mehr als die Hälfte meiner Leute Briten. Aber es war so, als hätten sie gezielt nach Mortimer und mir gesucht …«
»So wie sie nach uns gesucht haben«,
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