Die Flamme von Pharos
»seit deiner Abreise aus Yorkshire hast du kaum etwas anderes getan. Entgegen meiner ausdrücklichen Anweisung bist du mir gefolgt, hast mir nachspioniert und dir deinen Platz auf dieser Expedition erstritten.«
»Vater, ich …«
»Mit deiner Beharrlichkeit und deinem Mut hast du deinen Teil dazu beigetragen, dass wir es bis hierher geschafft haben«, fuhr der alte Gardiner fort, »und genau aus diesem Grund müssen unsere Wege sich hier trennen.«
»Aber … warum?«
»Weil es für dich höchste Zeit wird, aus dem Schatten Gardiner Kincaids zu treten. Lange Jahre habe ich dich unterrichtet, und dabei hast du dich als die beste Schülerin erwiesen, die ich je hatte. Nun musst du deine eigenen Erfahrungen sammeln. Du hast es dir verdient, auf eigene Faust diese Kammern zu erkunden, Sarah. Vielleicht ist es dir bestimmt zu finden, wonach ich so lange vergeblich gesucht habe.«
»Aber ich …«
»Willst du mir erzählen, dass du es nicht willst? Dass es dir gleichgültig ist, dass sich irgendwo innerhalb dieser Mauern eines der größten Rätsel der Menschheitsgeschichte verbirgt?« Er lächelte. »Du bist mir nicht nur aus Sorge um mich gefolgt, Sarah. Ich weiß es, und wenn du ehrlich zu dir selbst bist, dann weißt du es auch.«
»Dennoch werde ich dich nicht alleine gehen lassen«, beharrte sie.
»In diesem Fall«, erklärte Mortimer Laydon sich bereit, »könnte ich den alten Dickschädel begleiten. »Um ehrlich zu sein, ist mir der Gedanke, mich alleine durch diese düsteren Katakomben zu bewegen, nicht gerade angenehm. Auf diese Weise wäre uns beiden gedient.«
»Würde dich das ein wenig beruhigen?«, erkundigte sich Gardiner bei Sarah.
»Ein wenig«, erwiderte sie widerstrebend. Mortimer Laydon war nicht gerade der geborene Leibwächter, aber er war der engste Freund ihres Vaters. Sarah konnte nichts tun, das er nicht auch tun konnte, und vielleicht waren ihre Fähigkeiten auf der Suche nach Alexanders Grab und der verschollenen Bibliothek tatsächlich sinnvoller eingesetzt. Ihr Vater hatte offen ausgesprochen, was sie selbst sich nur widerstrebend hatte eingestehen wollen – dass sie nicht allein seinetwegen all dies auf sich genommen hatte, sondern auch um des Geheimnisses willen, dem sie auf der Spur waren …
»Dann ist es beschlossen«, verkündete Gardiner schlicht. »Mortimer und ich werden uns diese Kammer hier vornehmen. Hingis, Sie übernehmen die andere Kammer auf der linken Seite. Sarah und du Gard, ihr seid für die rechte Seite zuständig. Erkundet das Terrain, und seht euch um, anschließend kehrt hierher zurück, wo wir uns wieder treffen werden. Aber seht zu, dass ihr euch nicht verirrt. Grabanlagen können bisweilen wahre Irrgärten sein, und ich habe leider kein Garn zur Hand, das ich euch geben kann.«
»Kein Garn?« Du Gard hob die Brauen.
»Der Sage nach gab Ariadne, die Tochter des Königs von Kreta, dem Helden Theseus einen langen Wollfaden mit, als sich dieser in das Labyrinth des Minotaurus begab«, erklärte Sarah. »Indem Theseus das Garn abrollte, fand er unbeschadet wieder aus dem Labyrinth heraus.«
»C’est vrai?« Du Gard schürzte die Lippen. »Daran erkennt man, dass es nur eine Sage ist – im richtigen Leben steht nie eine Königstochter zur Verfügung, wenn sie gebraucht wird …«
Sarah verdrehte die Augen und schickte ihm einen tadelnden Blick, dann wandte sie sich ab und betrat die ihr zugewiesene Kammer.
»Viel Glück«, rief Gardiner Kincaid ihr hinterher, während in der Ferne Detonationen grollten wie ein Unwetter, das langsam, aber unaufhaltsam näher kam …
7
Es war verrückt.
Maurice du Gard hatte das untrügliche Gefühl, schon einmal an diesem Ort gewesen zu sein. Die schmalen Gänge, der von Sand bedeckte Boden, die Stufen, die immer weiter in die Tiefe führten, die niederen Durchgänge – all das hatte er schon gesehen und war dennoch niemals zuvor hier gewesen.
»C’est incroyable«, murmelte er immer wieder vor sich hin, während er die in scheinbar wahlloser Folge aneinandergebauten und sich immer weiter verzweigenden Gänge und Kammern durchstreifte, »c’est vraiment incroyable …«
Er war noch ein Junge gewesen, als seine Mutter ihm erzählt hatte, dass sie »le cadeau« besaß – die Gabe, in die Zukunft zu sehen. Wenn du Gard zurückdachte, so konnte er sich nur an zwei oder drei Gelegenheiten entsinnen, an denen sie von ihren besonderen Fähigkeiten gesprochen hatte; und als läge die Unterhaltung nicht Jahrzehnte
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