Die Flamme von Pharos
ganz allein zu entwirren, wenn die Zeit reif dafür ist«, wandte du Gard unbeirrt ein.
»Seltsam«, erwiderte Sarah, »genau das pflegt mein Vater auch immer zu sagen.«
»Und er hat recht damit«, meinte du Gard überzeugt. Damit griff er in die Innentasche seines Gehrocks, der nicht modisch schwarz, sondern aus königsblauem Damast geschneidert war, und zog ein Stück Papier hervor, das er vor Sarah entfaltete.
»Was ist das?«, wollte sie wissen.
»Das Titelblatt der Abendausgabe des ›Petit Parisien‹«, erklärte du Gard und legte ihr die Zeitungsseite hin.
»Und?«, fragte Sarah verständnislos. »Steht vielleicht etwas über meinen Vater darin?«
»Das nicht, aber ich dachte, dass dieser Artikel hier« – er deutete auf einen Bericht in der rechten Spalte – »Sie vielleicht interessieren würde …«
»Tatsächlich?« Flüchtig las Sarah den Artikel. Ihr Französisch war gut genug, um den Inhalt sofort zu erfassen. »Vergangene Nacht wurde in den Louvre eingebrochen«, fasste sie zusammen. »Die Täterin war eine offenbar geistig verwirrte Frau, die in die Verwaltungsräume der altorientalischen Sammlung eingedrungen ist. Bei der Vernehmung durch die Polizei gab sie an, im Auftrag ihres Bruders gehandelt zu haben, der vor zwei Monaten einem Mordanschlag zum Opfer fiel.«
»Hm«, machte du Gard. »Eine rätselhafte Geschichte, n’est-ce pas?«
»Allerdings.«
»Und sie wird noch rätselhafter – denn vor just zwei Monaten wurde Pierre Recassin ermordet, seines Zeichens Kurator der altorientalischen Sammlung im Musée du Louvre.«
»Und?«
»Verstehen Sie nicht, was das bedeutet? Dass die ominöse Einbrecherin keine andere als Francine Recassin gewesen ist, die Schwester des Ermordeten.«
»Sie kennen die Dame?«
»Nur flüchtig. Aber raten Sie, wer sie mir einst vorgestellt hat.«
»Woher sollte ich das wissen?« Sarah zuckte mit den Schultern.
»Es war Ihr Vater«, ließ du Gard die Katze aus dem Sack – und zauberte damit Erstaunen auf Sarahs angespannte Züge.
»Mein Vater? Sie meinen, er kennt diese Leute?«
»Er hat sie mir vorgestellt, als wir vor ein paar Jahren Gäste bei einem Empfang im Museum waren, und wenn ich mich recht entsinne, bezeichnete er Recassin als seinen Freund.«
»Eigenartig«, flüsterte Sarah, die den Namen noch nie zuvor gehört hatte. Einmal mehr kam sie nicht umhin, sich einzugestehen, dass ihr Vater offenbar längst nicht alles mit ihr geteilt hatte. Noch vor ein paar Wochen hätte sie einen solchen Verdacht als lächerlich abgetan – inzwischen wusste sie nicht mehr, wie sie darüber denken sollte …
»Der Mord an Recassin fand vor acht Wochen statt«, fuhr du Gard fort. »Genau zu dieser Zeit hielt sich auch Ihr Vater in der Stadt auf und übergab mir den Würfel.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Ganz sicher nicht das, was Sie mir gerade unterstellen«, beschwichtigte der Franzose. »Natürlich kann all das« – er deutete auf die Zeitungsseite – »auch ein seltsamer Zufall sein, aber meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass es Zufälle dieser Art nicht gibt.«
»Sie meinen, diese Frau – Francine Recassin – weiß etwas über meinen Vater?«
»In jedem Fall könnte es nicht schaden, sie danach zu fragen.«
»Möglich«, räumte Sarah nachdenklich ein, während große Servierwagen herangefahren wurden und man den nächsten Gang auftrug.
»Wie ich schon sagte.« Du Gard ließ sich eine frische Serviette umlegen. »Die meisten Rätsel entwirren sich dann, wenn die Zeit reif dafür ist, n’est-ce pas?«
»Es sieht ganz so aus.«
»Offenbar«, fügte der Franzose hinzu und bedachte Sarah mit einem durchdringenden Blick, »sind wir beide Pilger auf der Suche nach der Wahrheit. Vielleicht haben wir mehr gemeinsam, als uns bislang klar gewesen ist.«
»Vielleicht«, erwiderte Sarah nur – und lächelte.
7
P ERSÖNLICHES T AGEBUCH
S ARAH K INCAID
Wie sich zeigte, besaß du Gard gut funktionierende Beziehungen zur Pariser Polizei, die es ihm ermöglichten, binnen kürzester Zeit herauszufinden, wohin Francine Recassin nach ihrer Verhaftung gebracht worden war.
Ich ertappe mich dabei, dass ich dem Treffen mit gemischten Gefühlen entgegenblicke. Möglicherweise erhalte ich Hinweise darauf, wo sich mein Vater gegenwärtig aufhält, und das Rätselraten um das mysteriöse Artefakt, das er für mich zurückgelassen hat, findet ein Ende. Andererseits ist Madame Recassin der lebende Beweis dafür, dass mein Vater mir einige Dinge
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