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Die Flamme von Pharos

Die Flamme von Pharos

Titel: Die Flamme von Pharos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Vaters zu gelangen …
    »Wie Sie meinen«, brummte Didier und trat ohne Zögern ein. Mit höflichem Lächeln ließ du Gard Sarah den Vortritt, dann erst folgte er selbst. Seine Züge waren dabei zur Maske erstarrt, gerade so, als müsste er sich gegen den Wahnsinn schirmen, der diesen Ort umgab.
    Obwohl der fensterlose Korridor von elektrischen Glühbirnen beleuchtet wurde, die nackt und kahl von der gewölbten Decke hingen, war er so anheimelnd wie eine Gruft: Hohe gekachelte Wände begrenzten ihn zu beiden Seiten, in die grau gestrichene Metalltüren eingelassen waren. Darin waren winzig kleine, vergitterte Öffnungen, durch die Sarah hier und dort einen Blick auf die unglücklichen Insassen erhaschen konnte. Was sie sah, ließ sie nur noch mehr erschaudern.
    Ausgemergelte, blasse Gesichter.
    Augen, aus denen jede Vernunft gewichen war.
    Vor Verzweiflung schreiende Münder.
    Grässliche Bilder, die sich unauslöschlich in Sarahs Gedächtnis einbrannten. Zusammen mit dem beißenden Geruch von Äther, der die feuchtkalte Luft tränkte und sich mit dem Gestank von Fäulnis und Exkrementen mischte, bewirkten sie, dass ihr Magen nur noch mehr rebellierte und sich ein leises Ächzen ihrer Kehle entrang.
    »Alles in Ordnung?«, raunte du Gard ihr zu.
    »Ich denke schon. Es ist nur, dieser Ort …«
    »Ich weiß«, erwiderte du Gard, und sein Gesichtsausdruck verriet, dass seine Worte mehr waren als eine bloße Floskel.
    »Hier sind wir«, verkündete Didier plötzlich und blieb vor einer der Zellentüren stehen. »Nummer 87.«
    »Sind die Patienten denn nicht nach Geschlechtern getrennt?«, erkundigte sich Sarah.
    »Natürlich – Frauen befinden sich auf dieser Seite des Ganges, Männer auf der anderen.« Der Doktor grinste. »Glauben Sie mir, Lady Kincaid – in ihrem Zustand sind diese armen Teufel kaum in der Lage zu erkennen, wo sie sich befinden, geschweige denn, so etwas wie Schamgefühl zu entwickeln.«
    »Dennoch sollte man ihnen ihre Würde lassen, finden Sie nicht?«, fragte Sarah in einem Anflug von Trotz, der nicht so sehr dem Doktor selbst galt als vielmehr den Bedingungen, unter denen die Patienten hier leben mussten – dabei war die Anstalt von Neuilly noch bekannt dafür, besonders human zu arbeiten …
    »Natürlich«, erwiderte Didier achselzuckend und winkte einen weiteren der weiß bekittelten Wärter herbei. »Ganz wie Sie meinen.«
    Der Bedienstete, dessen hünenhafte Gestalt darauf schließen ließ, dass rohe Körperkraft an diesem Ort mehr gefragt war denn profunde medizinische Kenntnis, kam und öffnete die Zellentür. Quietschend schwang das eiserne Blatt auf und gab den Blick auf eine nur etwa zwei Yards im Quadrat messende Kammer frei. Durch ein vergittertes Oberlicht fiel fahles Licht, das lange Schattenstreifen auf die steinernen Bodenkacheln warf.
    »Gehen Sie nur hinein«, ermunterte Didier Sarah und du Gard. »Falls die Patientin Anzeichen von Aggression an den Tag legen sollte, rufen Sie den Wärter.«
    »Verstanden.« Sarah und du Gard wechselten einen Blick, dann betraten sie die Kammer, wobei sie sich bücken mussten, um sich am niederen Türsturz nicht die Köpfe zu stoßen.
    Schummriges Halbdunkel herrschte im Inneren der kargen Bleibe, die Sarah mehr an eine Gefängniszelle als an ein Krankenzimmer erinnerte. Eine karge Pritsche diente als Schlafstätte, eine Rinne im Boden dazu, die Notdurft zu verrichten. Die weiß getünchten Wände waren, zu Sarahs größter Verblüffung, von Zeichnungen übersät. Nicht das Gekritzel eines vom Wahnsinn Befallenen, sondern filigrane Kunstwerke, die Tiere, Gebäude und Personen abbildeten.
    Die meisten waren mit Kohle gezeichnet, andere einfach in den Kalk geritzt worden; zusammen schienen sie eine Art Muster zu ergeben, eine Spiralform, die sich über alle vier Wände erstreckte und in deren Mittelpunkt die Bewohnerin der Zelle hockte: eine elend aussehende Gestalt in einem farb- und formlosen Kleid, die im hintersten Winkel der Kammer kauerte. Langes Haar fiel in schmutzigen Strähnen auf ihre schmalen Schultern, ihr Gesicht hatte sie hinter zitternden Händen verborgen. Als die drei Besucher eintraten, zeigte sie keinerlei Reaktion.
    »Apathie ist kennzeichnend für Patienten in ihrem Zustand«, erklärte Dr. Didier und gab sich keine Mühe, leise zu sprechen. »Die überwiegende Zeit ist sie nicht ansprechbar. Sie sitzt einfach nur da und murmelt wirres Zeug.«
    »Was ist mit den Zeichnungen?«, wollte du Gard staunend wissen. »Hat sie

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