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Die Flamme von Pharos

Die Flamme von Pharos

Titel: Die Flamme von Pharos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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verheimlicht hat. Was, so frage ich mich, wird noch zum Vorschein kommen, von dem ich nichts weiß? Wie vielen Menschen werde ich noch begegnen, die meinen Vater gut zu kennen scheinen und denen ich noch nie zuvor begegnet bin?
    Bislang habe ich stets geglaubt, Vaters volles Vertrauen zu genießen und ihn besser zu kennen als jeder andere Mensch auf der Welt – aber je mehr ich über ihn herausfinde, desto mehr drängt sich mir der Verdacht auf, dass Vater ein zweites, mir unbekanntes Leben führt, dass es auch noch einen anderen Mann namens Gardiner Kincaid gibt, den ich nicht halb so gut kenne, wie ich stets geglaubt habe.
    Ich schäme mich, es mir einzugestehen, aber ich fühle mich gekränkt. Natürlich liegt es mir fern, diese Empfindung über das Wohl meines Vaters zu stellen, aber ich kann sie nicht leugnen.
    Immer wieder rede ich mir ein, dass Vater gute Gründe für sein Handeln hatte und dass diese Gründe alles erklären werden – aber was, wenn es solche Gründe nicht gibt?
    Dies ist die geheime Furcht, die ich im Herzen trage und die ich vor allem vor du Gard zu verheimlichen trachte. Noch immer weiß ich nicht, was ich von ihm halten soll. Ist er tatsächlich das, was er von sich behauptet? Kann ich ihm wirklich trauen?
    Noch kenne ich keine eindeutige Antwort auf diese Frage, aber da der exzentrische Franzose die einzige Hilfe ist, die sich mir bietet, kann ich es mir nicht leisten, sie abzulehnen.
    Meine Überzeugungen beginnen zu wanken.
    Veränderungen stehen bevor …
    C LINIQUE S T . J AMES
N EUILLY - SUR -S EINE
19. J UNI 1882
    Maurice du Gards Beziehungen wirkten wahre Wunder – schon tags darauf wurden Sarah Kincaid und er zu einem Besuch bei Francine Recassin vorgelassen.
    Wenn Sarah jedoch geglaubt hatte, dass sie die Frau, die beim Einbruch in den Louvre auf frischer Tat gefasst worden war, in einem städtischen Untersuchungsgefängnis vorfinden würden, so war dies ein Irrtum. Stattdessen hatte man Madame Recassin in die geschlossene Abteilung der Anstalt von St. James in Neuilly-sur-Seine eingeliefert, einem westlichen Vorort von Paris.
    Zu ihrem eigenen Schutz, wie es hieß …
    »Offen gestanden, ist es mir ein Rätsel, wie es Ihnen gelingen konnte, eine Besuchserlaubnis zu erwirken«, gestand Dr. Jean Didier, der zuständige Arzt, während er die Besucher durch die endlos scheinenden Korridore des Gebäudes führte. Didier war ein streng aussehender Gelehrter mit militärisch getrimmtem Schnauzbart und pomadisiertem Haar; die missbilligenden Blicke, die er durch die Gläser seiner Nickelbrille warf, ließen keinen Zweifel daran aufkommen, dass er nicht sehr erbaut über die Störung war. »Ich weise immer wieder darauf hin, wie wichtig für unsere Patienten die strikte Absonderung von der Umwelt ist.«
    »Die Anstaltsleitung war so freundlich, Lady Kincaid zuliebe eine Ausnahme zu machen«, erklärte du Gard höflich, »und das wäre sicher nicht so, wenn es sich nicht um eine Angelegenheit von äußerster Dringlichkeit handeln würde.«
    »Dennoch muss ich Sie ersuchen, sich kurz zu fassen«, mahnte Didier. »Patientin 87 befindet sich in einem äußerst labilen Zustand, der sich seit ihrer Einlieferung nicht verbessert hat.«
    »Wie lautet die Diagnose?«, wollte Sarah wissen.
    »Geistige Umnachtung«, erklärte der Mediziner lakonisch.
    »Geistige Umnachtung? Nichts weiter?«
    »Lady Kincaid.« Didier schenkte Sarah ein mitleidiges Lächeln. »Natürlich könnte ich Ihnen auch eine Aneinanderreihung lateinischer Fachbegriffe aufzählen, aber ich denke nicht, dass dies zu Ihrer Erhellung beitragen würde. Darüber hinaus bekommt man eine gewisse Routine, wenn man derart lange in diesem Metier arbeitet, wie ich das tue. Ich erkenne Wahnsinn, wenn ich ihn sehe.«
    »Ist es bei Madame Recassin denn so schlimm?«
    »Schlimm genug, um sie hier zu behalten – zu ihrem eigenen Schutz und dem der Menschen dort draußen.«
    »Wie kam es dazu?«
    Der Doktor blieb stehen und bedachte Sarah mit einem tadelnden Blick. »Haben Sie die Zeitungen nicht gelesen? Wissen Sie nicht, was sich vor zwei Monaten abgespielt hat?«
    »Lady Kincaid hält sich erst seit einigen Tagen in Paris auf«, sprang du Gard ihr bei, noch ehe Sarah etwas erwidern konnte. »Und das meiste von dem, was hier auf dem Festland geschieht, dringt nicht bis ins ferne London. Ist es nicht so, meine Liebe?«
    »Genauso ist es«, bestätigte Sarah. »Aber ich nehme an, der Doktor spricht vom Mord an Madame Recassins Bruder

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