Die Flamme von Pharos
sie angefertigt?«
»Unglücklicherweise.« Didier machte ein betretenes Gesicht. »Anfangs hat sie die Bilder mit den bloßen Fingernägeln in die Wand gekratzt. Wir haben versucht, es ihr auszutreiben, aber daraufhin hat sich ihr Zustand so dramatisch verschlechtert, dass wir nachgeben mussten. Wir haben ihr Kohle gegeben.«
»Die Qualität der Zeichnungen ist erstaunlich«, bemerkte Sarah mit Blick auf die Darstellung eines Raubvogels, der unschwer als Falke zu erkennen war.
»Kein Wunder«, erwiderte der Arzt. »Patientin 87 hat an der Sorbonne Kunst studiert, ehe sie … Ich meine, ehe all diese Dinge passiert sind.«
»Warum nennen Sie sie immer nur ›Patientin 87‹?«, fragte Sarah. »Sie hat einen Namen, oder nicht?«
»Glauben Sie mir, Lady Kincaid – innerhalb dieser Wände sind Namen ohne Bedeutung. Viele dieser armen Teufel wissen ja selbst kaum, wer sie sind – sollten wir uns da die Mühe machen, uns ihre Namen zu merken? Sprechen Sie mit Patientin 87, wenn Sie unbedingt wollen, aber ich sage Ihnen, Sie verschwenden damit nur Ihre Zeit.«
»Wir werden sehen«, entgegnete Sarah. »Würden Sie Monsieur du Gard und mich mit der Patientin allein lassen, Doktor?«
»Nichts lieber als das.« Der Arzt grinste säuerlich. »In diesem Fall ist es tatsächlich nur Ihre Zeit, die Sie verschwenden, und nicht meine. Guten Tag, Lady Kincaid. Monsieur du Gard.«
Mit einem Nicken verabschiedete sich Didier und verließ die Kammer, nicht ohne dem Wärter noch genaue Anweisungen zu erteilen, wie lange der Besuch im Höchstfall zu dauern und wie sich die Besucher zu benehmen hätten. Dann entfernte er sich. Man konnte hören, wie seine Schritte den Korridor hinab verklangen, bis sie schließlich in dem unheimlichen Chor untergingen, der jeden Winkel der Abteilung zu durchdringen schien.
Endlich waren sie mit der Patientin allein.
Beklommen blickte Sarah auf die zusammengesunkene Gestalt am Boden, und zu den zwiespältigen Gefühlen, die ihren Vater betrafen, gesellte sich noch ein weiteres: Mitleid …
»Madame Recassin?«, erkundigte sich du Gard, während er behutsam näher trat. Die kauernde Gestalt, deren Gesicht die Besucher noch nicht zu sehen bekommen hatten, reagierte noch immer nicht.
»Madame Recassin, können Sie mich hören? Mein Name ist Maurice du Gard. Erinnern Sie sich an mich?«
Keine Antwort.
»Auch Ihr Bruder war dabei, wissen Sie nicht mehr? Ein gemeinsamer Freund hat uns einander vorgestellt …«
Nicht nur, dass du Gard auch weiterhin keine Antwort erhielt – es war noch nicht einmal erkennbar, ob Francine Recassin seine Worte überhaupt zur Kenntnis nahm. War sie so in ihre eigene Welt versunken, dass sie ihre Umwelt nicht mehr wahrnahm? Dass sie nicht mehr begriff, was um sie herum vor sich ging? Vielleicht, dachte Sarah beklommen, hat Dr. Didier recht gehabt, und es gibt tatsächlich nichts, das Francine Recassin noch für uns tun kann. Aber zumindest wollte sie nichts unversucht lassen …
»Madame Recassin«, sagte sie deshalb leise, »mein Name ist Sarah Kincaid. Ich bin die Tochter von Lord Kincaid, der, wenn ich es recht verstanden habe, ein Freund Ihres kürzlich verstorbenen Bruders gewesen ist …«
Sie unterbrach sich, um zu sehen, ob ihre Worte irgendeine Wirkung hervorriefen – aber noch immer kauerte die Patientin am gekachelten Boden, das Gesicht in den Händen, und rührte sich nicht.
»Ich weiß, wie seltsam das für Sie klingen muss, Madame Recassin, aber ich bin hier, weil ich Sie um Ihre Hilfe bitten möchte«, fuhr Sarah dennoch fort. »Mein Vater ist verschollen, und ich habe Anlass zu der Vermutung, dass er sich in großer Gefahr befindet. Ich möchte ihn warnen, aber dazu muss ich zunächst herausfinden, wo er sich aufhält – und da er vor rund zwei Monaten in Paris gewesen ist, zu einer Zeit also, da ihr Bruder noch lebte, hatte ich gehofft, dass Sie mir vielleicht etwas darüber sagen können …«
Wieder eine Pause.
Noch immer keine Reaktion.
»Haben Sie meinen Vater gesehen? Bitte, Madame Recassin, es ist sehr wichtig für mich. Ich weiß, dass Sie Schreckliches erlitten haben, und Sie haben mein ganzes Mitgefühl. Aber falls Sie sich an etwas erinnern, so bitte ich Sie von Herzen, es mir zu sagen und nicht einfach …« Sie verstummte resignierend, denn die Patientin gab ihr das Gefühl, gegen eine Mauer anzureden.
Entweder war Francine Recassin der Realität schon zu entrückt, um zu begreifen, was Sarah von ihr verlangte; oder aber sie
Weitere Kostenlose Bücher