Die Flammen der Dämmerung: Roman (German Edition)
Keiner kennt sich damit besser aus als ich.«
Cashiv lachte. »Morgen früh holen wir dich zum Fest ab.«
»Wir treffen uns auf dem Exerzierplatz«, sagte Soli. Cashiv nickte, und er und seine Gefährten schlenderten ein Stück weiter die Gasse hinunter zu Krishas Verkaufsstand.
Manvah legte ihre Hand auf Solis Schulter. »Es tut mir leid, dass du das tun musstest, mein Sohn.«
Soli zuckte die Achseln. »An manchen Tagen ist man der Schwanz, und an manchen Tagen der Hintern. Es wurmt mich nur, dass Krisha gewonnen hat.«
Manvah lüftete ihren Schleier gerade so weit, dass sie auf den Boden spucken konnte. »Krisha hat keineswegs gewonnen. Sie hat keine Körbe, die sie verkaufen kann.«
»Woher willst du das wissen?« fragte Soli.
Manvah kicherte. »Vor einer Woche habe ich Ungeziefer in ihrem Lagerzelt ausgesetzt.«
Nachdem Soli geholfen hatte, den Stand aufzuräumen, begleitete er sie zu dem kleinen Lehmziegelbau, in dem sie wohnten. Inzwischen riefen die dama von den Minaretten des Sharik Hora die Abenddämmerung aus. Die meisten Körbe hatten sie gerettet, aber einige mussten ausgebessert werden. Auf dem Rücken trug Manvah ein großes Bündel Palmwedel.
»Ich muss mich beeilen, um rechtzeitig zum Appell anzutreten«, sagte Soli. Inevera und Manvah umarmten und küssten ihn, ehe er kehrtmachte und in die dunkler werdende Stadt rannte.
Im Haus öffneten sie die mit Siegeln versehene Falltür in ihrer Behausung und stiegen für die Nacht in die Untere Stadt hinab.
Jedes Gebäude in Krasia besaß mindestens eine Etage unter dem Erdboden, von der aus Durchgänge in die eigentliche Untere Stadt führten, eine riesige Bienenwabe aus Tunneln und Kavernen, die sich meilenweit erstreckten. Dort suchten die Frauen, Kinder und khaffit , die Händler und Handwerker, jede Nacht Zuflucht, während die Krieger den alagai’sharak kämpften. Große Blöcke aus behauenem Stein versperrten den Dämonen einen direkten Zugang aus den Tiefen von Nies Abgrund, und in die Quader waren mächtige Siegel eingemeißelt, um die, welche anderenorts nach oben gestiegen waren, in Schach zu halten.
Die Untere Stadt war eine undurchdringliche Schutzzone, die nicht nur die einheimische Bevölkerung beherbergen konnte, sondern eine eigenständige Stadt bildete, sollte das Undenkbare eintreten und der Wüstenspeer von den alagai erobert werden. Es gab Schlafquartiere für jede Familie, Schulen, Paläste, Häuser der Andacht und noch vieles mehr.
Inevera und ihre Mutter verfügten nur über einen kleinen Keller in der Unteren Stadt, mit Schlafpritschen, einem Kühlraum für Lebensmittel und einem winzigen Gemach mit einer tiefen Grube, wo sie ihre Notdurft verrichteten.
Manvah entzündete eine Lampe, sie setzten sich an den Tisch und aßen eine kalte Abendmahlzeit. Als die Schüsseln weggeräumt waren, breitete sie die Palmwedel aus. Inevera wollte ihr helfen.
Manvah schüttelte den Kopf. »Ins Bett mit dir. Morgen ist für dich ein wichtiger Tag. Ich will nicht, dass du mit roten Augen und müde vor den dama’ting erscheinst, wenn sie dich befragen.«
Inevera betrachtete die lange Schlange von Mädchen und deren Müttern, die alle darauf warteten, in den dama’ting -Pavillon eingelassen zu werden. Die Bräute des Everam hatten verfügt, dass sich, wenn die dama am Tag der Frühlingstagundnachtgleiche die Morgendämmerung ausriefen, sämtliche neun Jahre alten Mädchen zum Hannu Pash einzufinden hätten, um zu erfahren, welchen Lebensweg Everam für sie bestimmt hatte. Für einen Knaben konnte der Hannu Pash mehrere Jahre dauern, doch bei den Mädchen genügte eine einzige Weissagung der dama’ting .
Die meisten wurden einfach für fruchtbar erklärt und bekamen ihr erstes Kopftuch, einige hingegen verließen den Pavillon als Verlobte, oder man gab ihnen eine neue Berufung. Andere wiederum, hauptsächlich die Armen und des Lesens und Schreibens Unkundigen, kaufte man ihren Vätern ab und bildete sie im Kissentanz aus; danach schickte man sie in den großen Harem, wo sie Krasias Kriegern als Jiwah’Sharum dienten. Ihnen wurde die Ehre zuteil, neue Krieger zu gebären, um die zu ersetzen, die im allnächtlich stattfindenden alagai’sharak , dem Kampf gegen die Dämonen, ihr Leben ließen.
Voller Aufregung war Inevera aufgewacht, hatte ihr gelbbraunes Kleid angezogen und ihr dichtes schwarzes Haar gebürstet. Es fiel in natürlichen Wellen und glänzte wie Seide, doch heute war der letzte Tag, an dem alle Welt es sehen durfte.
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