Die Flammen von Lindisfarne

lange Haar wie ein Schleier bis zur Hüfte herab über ihren ausgemergelten Körper fiel.
     
    Der Klang der Harfe, die der Sklade mit kundiger Hand schlug, schien aus geisterhaften Spähren in die Welt der Lebendigen zu dringen. Dazu erklang der helle, in den hohen Tönen schmerzhaft schrill klingende Gesang der Priesterin :
     
    „Ich rufe Tyr, den Herrn des Schwertes und der Treue!
     
    Ich rufe Thor, den Herrn des Hammers und der Kraft!
     
    Ich rufe Odin, den Herrn des Speeres und der Weisheit!
     
    Sigtyr! - Asathor! - Hagal! - Götter und Meister der Runen.
     
    Geheimnisvolle Runennamen geheimnisvoller Göttermächte!
     
    Verborgene Namen aus Walhalls strahlender Pracht,
     
    nur den Lippen der Erwählten dürfen sie entweichen!
     
    Sigtyr - gerechter Richter der Schwertweise.
     
    Asathor - gerechter Richter der Hammerkraft.
     
    Hagal - gerechter Richter des Speerfluges.
     
    Euch rufe ich an uns zu künden Wohl oder Weh,
     
    Lust oder Leid, traute Tage oder schwärzliche Schatten.
     
    Raunt euren Rat in Rätseln zu raten,
     
    in geritzte Runen verborgen verhelt!“
     
    Unheimliches Schweigen lastete in der Halle. Die anwesenden Männer und Frauen wagten kaum zu atmen. Die Worte der Priesterin ließen heilige Schauern über ihr Gemüt fließen. Nur einmal, so erinnerten sich die alten Wikinger, hatte Ruwala die große Beschwörung von Tyr, Thor und Odin, den Herren der Runen, gewagt. Das war an dem Tage, als Agnar Biberzahn, Haakons Vater, der Würde des Jarls von Ringan freiwillig entsagte und es dem Willen der Götter überließ, wem von seinen Söhnen die Würde des Jarl zuteil werde. Wieder erklang die Stimme des uralten Weibes:
     
    „Asathorn zu meiner Rechten - Sigtyr zu meiner Linken -
     
    Hagal zu meinem Haupte - so spüre ich die Nähe der Götter.
     
    Und im Angesicht der Hohen nenne ich nun die Namen der heiligen Runen, aus denen die Unsterblichen die Vergangenheit beleben, das Geschehende deuten das Kommende flüstern!“
     
    Lars hielt den Atem an und seine Hand verkrampfte sich in das wollene Laken, dass ihm Wiltrudis zugeworfen hatte, damit er sich den Schweiß und den Unrat des Kampfes vom Körper wische. Denn in diesem feierlichen Augenblick sollten die Namen der geheimen Zauberzeichen genannt werden, die sonst die Kundigen streng geheim hielten. Nur unter den Priestern Odins wurde das geheime Wissen der Runenkunde weitergegeben. An heiligen Plätzen in Waldestiefen unterwiesen weise, im alter abgeklärte Priester Odins junge Mädchen, welche die Kraft göttlicher Weissagung in sich verspürten, in der Deutung der geheimen Zeichen, die man auf kleine Stäbe aus den fruchttragenden Ästen einer Buche schnitt.
     
    „FA - die Rune des gerechten Weltenvaters!“ rief Ruwala.
     
    „FA! - FA! - FA!“ ertönte die erst zaghafte, dann kräftiger werdende Stimme der Wikinger.
     
    „UR - Urquell des Seins!“ klang die Stimme der Priesterin.
     
    „ UR! - UR! - UR!“ antwortete der Chor der Männerkehlen.
     
    „Thorn - heiliges Zeichen von Asathor und Rune der Armstärke!“
     
    Und wie vorher wiederholten die Stimmen der Anwesenden den geheimnisvollen Namen des von Odin selbst ergründeten Zauberzeichens. Lars hörte sich selbst mit rufen und spürte, wie sich seine Lippen unbewusst bewegten. Ihm war, als durchschreiten unsichtbare Götter die Reihen der Menschen und ein Hauch der Ewigkeit streife durch die Halle.
     
    „AS - Symbol der Gemeinschaft aller Götter, der Herren von As-gard!- RIT - Zeichen des Kämpfers, der einsam den Schicksalsweg seiner Bestimmung geht! - KAN - mystisches Geheimnis der männlichen Lendenstärke!“ rief Ruwala mit lauter Stimme weitere Runen und Lars erkannte, dass sie mit ihrer rechten Hand die geheimen Symbole in die Luft schrieb. Und immer untermalten die singenden Töne der im vollen Griff geschlagenen Harfe ihren Gesang.
     
    HAGAL - Rune der Ganzheit und der Zerstörung - Odins eigene Rune wie sein geheimer Name - Heil der Halle und Hagelschlag zugleich!
     
    NOT - das Zeichen der Bedrängnis und der Gefahr, des Schmerzes und des Zwangs - jedoch auch der Notwendigkeit, das alles so geschehen muss, wie die Nornen die Fäden knüpfen!
     
    IS - das Erstarren des Eises und die Starrheit des Willens wie auch die Standhaftigkeit des Kämpfers im Streite!“
     
    Immer wiederholten die Männer nach der Deutung des Runen-Symbols den Namen. Die Frauen schwiegen, wie es der Sitte entsprach. Nur der wissenden Priesterin stand es zu, die heiligen