Die Flammen von Lindisfarne
Gebrülls, das Bauern, Handwerker und Holzfäller anstimmen, wenn sie schwere Lasten heben, doch lieber die Heiligen anzurufen, die sicher nicht mit Hilfe geizen würden.
„Wir werden unseren Ruf zum heiligen Siemon von Cyrene erschallen lassen!“ verstand Bruder Alban die Sache richtig. „Denn nach den Worten des Evangeliums hat dieser fromme Siemon unserem Herrn Jesus bei der Passion auf dem Wege nach Golgotha geholfen, das schwere Kreuz zu tragen. Vielleicht wird er auch uns helfen, die schwere Last zu bewältigen, auf dass Christi Siegeszeichen auf der Spitze unseres Turmes erhöht werde!“
„Die Weisheit des Glaubens redet aus dir“, nickte Johannes, der geistig bereits jenseits des irdischen Lebens wandelte und dessen eifernde Frömmigkeit selbst Abt Bernhard erstaunte. „Nun denn, Brüder im Herrn, noch einmal angefasst zum gottgefälligen Werk. Ich bete vor und ihr antwortet. Und bei dieser Antwort werdet ihr eure Kräfte anspannen.“
Die Mönche nickten und nahmen ihre Positionen ein. Ihre Hände umklammerte das kühle Metall des Kreuzes.
„ Sancte Simone Cyrenium !“ erklang des Johannes singende Stimme.
„ Ora pronobis !“ antwortete der Chor der Mönche. Und siehe, anscheinend ließ sich das schwere Kreuz nun viel leichter tragen.
„Heiliger Simon von Cyrene!“ sang Bruder Johannnes wieder in lateinischer Sprache.
„Bitte für uns!“ war die Antwort der Mönche und wieder war eine Stufe zum Kalvarienberg geschafft, wie Bruder Erik den Turm nannte, als er sich wieder einmal den Schweiß von der Stirn wischte.
„“Häretiker! Heidnischer Ketzer!“ zischte Bruder Johannes. „Hinab mit dir in deine Zelle und tue Buße für deine Gedanken und deine Worte. Es ist schwere Sünde, den Turm vom Hause des Herrn mit der Stätte seiner Leiden in einem Wort zu nennen!“
„Und wie lange dauert meine Buße?“ Die Stimme des ehemaligen Wikingers klang mit leisen Spott. „Bis zur nächsten Andacht? Oder wollt ihr auf den Klang meiner Harfe zu euren Gesängen verzichten?“
„Diesen Tag und die darauf folgende Nacht bis zum Anbruch des neuen Tages“, entschied der Abt, der die Novizinnen zu ihrer Arbeit gewiesen hatte und nun selbst mit Hand anlegen wollte. „Von den gemeinsamen Mahlzeiten bist du ausgeschlossen, Bruder Erik. Das Fasten des Leibes läutere deine Seele. Geh hin und bereue im Gebet!“
„Ich danke für die Milde der Strafe“, sagte Bruder Erik, wie es einem demütigen Mönch zukam. Im Grunde genommen war es gar nicht schlecht, denn es ersparte ihm die weitere Plackerei mit dem schweren Kreuz. Außerdem war es gut, sich mal einen Tag ausschlafen zu können, ohne alle paar Stunden die vorgeschriebenen Rituale der Gebete und Andachten erfüllen zu müssen. Dass es nichts zu essen gab, würde er wohl überleben.
Bruder Johannes folgte Erik mit dem klirrenden Schlüsselbund des Abtes zu seiner Zelle. Er würde sie von außen verschließen, damit sie der Büßer nicht verlassen konnte.
Dann eilte Johannes zurück zum Turm, wo sich die Mönche weiterhin bemühten, das schwere Kreuz bis zur Plattform empor zu schleppen und als Bruder Benno die Terz läutete, sahen sie zum Turm hinauf und waren stolz auf ihr Werk.
In schimmernden Gold prangte das Symbol der Erlösung weithin über Land und Meer...
Bruder Erik, der in seiner Zelle eingeschlossen war, sah davon nichts und er teilte auch nicht die Erbaulichkeit des Anblicks mit seinen Brüdern. Das Geräusch des sich im Schloss drehenden Schlüssels war ebenso verklungen wie die Schritte des Bruders auf dem Gang. Nun war Bruder Erik allein. Er ging hinüber zu seiner Pritsche.
„Was bei Odins Bart...!“ stieß Bruder Erik verblüfft in der Sprache seines Nordlandes hervor, als er sich auf die Pritsche fallen ließ, die ihm, mit einem Strohsack ausgepolstert, als Schlafstätte diente. Denn der quietschende Schmerzensschrei eines jungen Mädchens war unüberhörbar. Sofort war der alte Mann auf den Knien und lugte unter seine Bettstelle. Was er erblickte, ließ erst Verblüffung, dann Zorn und schließlich Heiterkeit über sein Gesicht gleiten.
„Warum schickte dich Freya nicht früher zu mir“, sagte er immer noch mit Worten, die man zwar in Norwegen, aber nicht in Britannien verstand. „Na, nun komm mal raus da, holdes Kind“, setze er dann seine Rede in der Sprache des Landes fort, die er in Gesprächen mit den Klosterknechten so nebenher gelernt
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