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Die Flammen von Lindisfarne

Die Flammen von Lindisfarne

Titel: Die Flammen von Lindisfarne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf W. Michael
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sah. Er wandte den Blick ab und schwieg, ohne ein Wort der Rechtfertigung zu suchen. Aber der Vergleich des gequälten Odin mit dem sterbenden Christengott ließ sein Innerstes nicht los.
     
    „Als er tot war, nahm man den Christengott vom Kreuz und fesselte ihn mit Binden aller Art, in die Zaubersalben und Latwergen gemischt waren. Dann schaffte ihn seine Gefolgsmannen in eine Felsenhöhle und rollte einen mächtigen Felsen davor. Denn schon in den Tagen seines Lebens hatte Christus verkündet, dass er aus Hels finsterem Reich zurückkehren werde. Und deshalb stellten seine Feinde bewaffnete Männer vor das Grab, die ihn endgültig töten sollten, wenn ihn die Schatten von Helheim zurückweisen sollten.“
     
    „Dass dieser Christus von den Toten auferstanden sein soll, hat uns Sigurd bereits verkündet“, warf Olaf Metkanne ein. „Also sprich schnell!“
     
    Beifälliges Gemurmel zeigte die Ungeduld der Nordmänner.
     
    „Nach dem dritten Tage brach das Grab auf und die Männer der Wache entflohen, als der lebendige Heliand dem Felsgelass entstieg. Diese Krieger und andere Gefolgsleute des Heliand haben gesehen, dass der Christengott lebte. Er zerbrach seine Bande und zersprengte den Felsen, der ihn zurückhielt. Dann aber sammelte der helle Christ seine alten Getreuen und befahl ihnen, in alle Welt zu ziehen und Krieger-scharen zu sammeln für den Kampf gegen den Teufel Luzifer und seine Dämonenschar!“
     
    „Ha, und die Christen nennen Wotan, unseren Odin, stets den Teufel Luzifer und Thor und die anderen Asen bezeichnen sie als Dämonen! So jedenfalls kündeten es die Kreuzpriester in König Karls Gefolge!“ schrie Sigurd Schildspalter wild, der nun die Zusammenhänge begriff. „Diese elenden Neidinge, die es wagen, unsere Sagas aus Urvätertagen für ihre eigene Lehre zu nutzen!“
     
    „Drei Stunden hing der Christengott am Kreuz, bevor er starb. Aber neun Tage quälte sich Odin, vom Speer der Feinde getroffen, in den Zweigen des Weltesche Yggdrassil!“ rief Hrolf Silberhaar. „Dann fand er das Geheimnis der Runen und die Lösung der Seele, welche auch die Lösung seiner Bande bedeutete. Singe uns, o Sänger, den heiligen Sang von Odins Schmerz und Erkenntnis!“ Damit wies sein ausgestreckter Arm hoheitsvoll auf Olaf Metkanne, dessen Hände den Rahmen der Harfe so fest umklammerte, dass die Knöchel seiner Hände weiß wurden.
     
    Nun erhob sich der feiste Wikinger und stieg in völliger Selbstverständlichkeit auf den Tisch vor dem Jarl. Trotz seiner Korpulenz hatte seine Gestalt in diesem Augenblick etwas Hoheitsvolles, als er sich hoch aufrichtete und die Finger mehrfach über die Saiten des Instruments gleiten ließ, während sein Blick von oben herab Eingebung zu erwarten schien. Er begann mit heller, volltönender Stimme das uralte, heilige Lied aus den Anfängen der Welt und der Götter zu singen:
     
    „Ich weiß dass ich hing am windigen Baum
     
    Neun Nächte lang mit der Ger verwundet.
     
    Geweiht dem Odin - ich selbst mir selbst,
     
    an jenem Baum, da jedem fremd
     
    aus welcher Wurzel er wächst!“
     
    Sie spendeten mir nicht Speise noch Trank.
     
    Nieder neigt ich mich, nahm auf die Runen.
     
    Nahm sie rufend auf, nieder dann neigt ich mich!
     
    Zu wachsen begann ich und wohl zu gedeihen,
     
    weise ward ich da.
     
    Wort mich von Wort zum Wort führte,
     
    Werk mich von Werk zu Werk führte!“
     
    Nachdem der Skalde sein Lied geendet hatte, herrschte einen kurzen Augenblick atemlose Stille. Dann hoben die Wikinger ihre Hörner und tranken zu Ehren Odins.
     
    „Es scheint, als habe Loki selbst die Lehre der Christen geschaffen, um die Männer Midgards von den Asen abfallen zu lassen“, grollte Sigurd Schildspalter. „Denn am Hofe des großen Karl kennt man unsere Lieder sehr wohl. Aber die Kreuzpriester nennen unsere Götter dort Dämonen. Das ist in ihrer Sprache das Wort für die grässlichen Kreaturen von Helheim. Die Christenpriester sagen, dass jeder gute Kämpfer dem Licht des hellen Christ folgen müsse, um diese Dämonen zu bekämpfen und den Glauben an sie auszurotten...“
     
    „Dem Licht des hellen Christ folgen! Einem Licht, das ein Feuer ist!“ heulte Hrolf Silberhaar. „Erkennt ihr nicht, wie sehr die Lieder unserer Altvorderen mit den Erzählungen über den geheimnisvollen Heliand übereinstimmen? Dieser Christus ist niemand anderes als Loki selbst, der in Bande gelegt von Felsen gehütet wurde. Doch nun sind die Felsen zersprengt und der

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