Die Flammen von Lindisfarne

Eheweib wird, nachdem sie als letzte Tat ihres ehrenden Maidentumes die Zunge des SEEDRACHEN netzet“. setzte Wulfegar hinzu, „Denn mit diesem Trunk bittet sie das Schiff, den Mann ihres Herzens und Gebieter ihres Hauses nach dem Siege in ihre Arme zurück zu tragen!“
     
    „Sie bittet stellvertretend für alle Frauen, deren Männer als kühne Wikinger mit gegen die Feinde von Asgard segeln!“ erklang dazwischen eine hohe Fistelstimme. Ruwala, das uralte, runenkundige Weib, war wie üblich in den Wintermonaten von ihrer Waldhütte herab in die Siedlung gekommen und genoss überall an den Herdfeuern das Gastrecht. Im Sommer sammelte sie Kräuter und Wurzeln, aus denen sie Heil-tränke jeder Art schuf. Und wer aus den heiligen Zauberzeichen der Götter die Zukunft erfahren wollte, der musste mühsam im Wald ihre kleine Kate suchen.
     
    Gleichzeitig behütete sie den kleinen Hain, in dem Frigga, Odins Gemahlin, von den Frauen verehrt wurde. Denn Frigga war die Behüterin der Ehe und der ehelichen Treue. Junge Wikinger-paare, die sich eheliche Treue geloben wollten, gingen zu ihr in den Weihe-Hain, um im Kreise von Friggas heiligen Linden von der Wala als Priesterin der hehren Göttin für Mann und Frau erklärt zu werden.
     
    Zur Wintersonnenwende jedoch war Ruwala Gast des Jarl, der aus den Runen die Zukunft der Thing-Gemeinschaft erfragte. Sie war einverstanden, dass sie am letzten Tage des Jul-Festes Friggas Segen über die Verbindung von Thorleif und Thursula sprechen sollte.
     
    Als sie aber erfuhr, dass zur Hochzeit des ältesten Jarl-Sohnes auch die Namensgebung eines Schiffes bevor stand, da erbat sie sich von Nils Krähenfuß das Schnitzmesser. Denn aus dem ersten Trunk des Drachenschädels vermochte der Kundige das Schicksal des Schiffes zu lesen.
     
    Während der fast zahnlose Mund der Wala Gesänge zu Ehren der hohen Asen anstimmte, schnitt sie mit außerordentlicher Geschicklichkeit die Runen in der seit den alten Tagen überkommenen Reihe in die untere Zahnreihe des Seeungeheuers. So wie der Met, der über die Zunge des hölzernen Idols geschüttet wurde, nach außen über die Runen verlief und die heiligen Zeichen berührte, würde Ruwala das Schicksal des Schiffes deuten.
     
    Während sie die heiligen Zeichen ritzte, aus denen die Götter des Nordens weisen Rat raunen, sang sie mit weihevoller Stimme die uralten Worte:
     
    „Runen sollst du lesen, geratene Stäbe.
     
    Gar starke Stäbe. Gar heilende Stäbe.
     
    Geritzt vom Rater - gemacht von Göttern.
     
    Weißt du zu ritzen? - Weißt du zu raten?
     
    Weißt du zu färben? - Weißt du zu fragen?
     
    Weißt du zu rufen? - Weißt du zu opfern?
     
    Weißt du zu legen? - Weißt du zu lähmen?
     
    Runen rat ich zu reiben auf Waffe und Wehr,
     
    und ritze sie wie auf den Schild sie geraten
     
    der steht vor der gleißend guten Göttin,
     
    auf Arwakers Ohr und Alswinns Huf,
     
    auf das Rad, das sich dreht unter des Donnerers Wagen,
     
    auf Sleipnis Zähnen und der Zunge Bragis,
     
    auf des Schlitten Kufen und des Adlers Schnabel,
     
    auf des Bären Pranken und des Wolfes Pfoten,
     
    auf blutiger Schwinge und Hauses Herd,
     
    auf der Heilbringerin Hand und der Helferin Spur,
     
    auf Bronze und Eisen und auf gutes Kleinod,
     
    auf den Met und das Ael und gewohnten Sitz,
     
    auf Gungnirs Spitze und Granis Brust,
     
    auf der Norne Nagel und der Nachteule Schnabel!“
     
    Den Wikingern in der Halle raste ein frommer Schauer über den Rücken, als sie das geheimnisvolle Lied der Wala hörten, ohne völlig den Sinn der Worte zu verstehen. Und als das der Sang abbrach, hatte sie ihr Werk beendet und die heiligen Zeichen in den Rachen des hölzernen Seeungeheuers eingeritzt. Zeichen, deren Bedeutung selbst dem Jarl unbekannt war. Denn die Kunde der Runen wurde eifersüchtig von Odins Priestern gehütet.
     
    Das Ritzen der Runen in den Schädel des neuen SEEDRACHEN war bereits am ersten Tage der Sonnenwendfeiern geschehen. Das Fest zu Ehren von Odins Ritt über die winterliche Welt strebte heute, am siebenten Tage, seinem Höhepunkt entgegen, der die Namensgebung des neuen Kampfdrachen und die Hochzeit Thorleif Knochenbrechers mit Wulfegars Tochter werden sollte.
     
    Zunächst, so wollte es die Sitte, würden die Brautleute zum Hochsitz Haakon Bärensprungs geführt. Dort sollte die Wala aus den geworfenen Runen den Willen der Götter über diese Verbindung lesen und sodann ihre Hände im Namen Friggas zusammenfügen und dafür zu