Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
dafür geben…?“
„Bitte“, sagte der Polizist müde.
„Hören Sie sich diese Geschichte an: Eine hässliche, fette Spinne, die gerade ein wehrloses Opfer in ihr klebriges Netz gewickelt und verspeist hat, macht sich auf den Weg nach Hause – um ein Nickerchen zu halten. Fast ist sie angekommen, als sie von oben einen düsteren Schatten sieht. Es ist ein menschlicher Fuß, und sie wird brutal zerquetscht.“
„Puh“, meinte Kai, „was soll dieser Quatsch?“
„Jetzt erzähle ich dieselbe Geschichte noch mal“, sagte Dr. Albers, „aber Sie werden den Unterschied vielleicht bemerken: ‚Ein einzigartiges Wunder der Natur, eine Spinne, die zufrieden war, weil ihre natürlichen Bedürfnisse nach Hunger gestillt worden waren, machte sich auf den Weg nach Hause – um ein Nickerchen zu halten. Fast ist sie daheim angekommen, als sie von oben, inmitten des Tageslichts, etwas nahen sieht. Im nächsten Moment ist sie im Paradies.“
„Beim zweiten Mal wurden die Dinge anders bewertet“, bemerkte Kai. „Diese Version gefiel mir besser.“
„Weil die Sicht auf die Geschichte positiv ist“, sagte Dr. Albers. „Das Beispiel mit der Spinne ist mir ganz spontan eingefallen. Statt der Spinne kann eine Geschichte auch von Krankheit, Traurigkeit, Abschied oder fehlender Kommunikation handeln. Was Sie empfinden, hängt davon ab, wie Sie diese Dinge bewerten.“
Forschend blickte ihn Kai an. „Bitte noch ein Beispiel.“
„Nehmen wir an, Sie sind ein Millionär, haben eine schöne Frau, kluge Kinder, ein Haus mit Garten und Swimmingpool in L.A., eine Villa in Südfrankreich, einen Privatjet und jede Menge Angestellte. Sind Sie dann glücklich?“, fragte Andreas.
„Natürlich nicht“, antwortete der Polizist.
„Falsch“, sagte der Psychologe. „Ob Sie ein Leben mit Pool und Privatjet glücklich macht, hängt allein davon ob, ob Sie es möchten. Wenn der Millionär ein Millionär ist, weil er nach dem Prinzip Höher-Schneller-Weiter lebt und sein reiches Dasein nur eine von endlosen Etappen auf einem getriebenen Weg nach oben ist, lebt er das falsche Leben – und ist nicht zufrieden. Wenn er sein Millionärsdasein aber als eine Art Geschenk empfindet, das er sich hart erarbeitet hat, weil er es unbedingt haben wollte, ist es genau das Richtige für ihn.“
„Aber wie kann ich wieder glücklich werden?“, fragte Kai.
„Für Glück sind Endorphine verantwortlich, wie sie Drogen verursachen“, erklärte Dr. Albers. „Ich schlage vor, dass Sie sich mit Zufriedenheit begnügen.“
„In meiner Situation kann ich doch nicht mehr zufrieden sein!“
„Doch. Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen. Wenn ich mir Ihre Frau und Sie ansehe, glaube ich, dass Sie selbst wissen, wie Sie gemeinsam zufrieden werden können. Ich gebe Ihnen einen Tipp. Stellen Sie sich vor, dass Ihre Frau heute Abend im Türrahmen lehnt, um sich von Ihnen zu verabschieden – bevor Sie Ihre erste Nacht in Haus Holle allein verbringen. Sie wissen nicht, ob Sie morgen noch leben. Was müssten Sie tun, wenn Sie der Mann im Bett wären?“
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Kai.
„Ganz einfach“, sagte der Psychologe. „Als Erstes sollten Sie sich das Bild des Mannes im Bett und der Frau im Türrahmen plastisch vorstellen. Anschließend suchen Sie nach dem, was Ihnen wie ein Fehler des Zeichners in diesem Bild erscheint.“
„Das wäre in meinem Fall die Schwingung zwischen den Personen“, analysierte Kai.
„Richtig. Wie lässt sich dieser Fehler verbessern?“
„Durch einen guten Vorsatz“, meinte Kai.
„Sowie durch eine daraus resultierende Handlung“, ergänzte Andreas. „Was könnte der Mann im Bett machen, um den Fehler im Bild zu korrigieren?“
„Den Mund aufmachen“, antwortete Kai.
„Mit der Frau reden“, sagte der Psychologe.
„Aber wenn das Thema so schwer ist…?“
„Man muss immer darauf vertrauen, dass eine Handlung, mit der man Gutes beabsichtigt, auch gute Konsequenzen hat. Was könnte der Mann im Bett also machen, um das Bild zu verschönern?“
„Er sollte seiner Frau sagen, dass er Angst hat. Das könnte ein Anfang sein.“
„Es ist der beste Anfang“, sagte Andreas. „Anschließend wird ihn seine Frau fragen, wovor er sich fürchtet. Der Mann muss es ihr ehrlich gestehen. Er hat endlich die Chance, ihr zu sagen, dass er sich davor fürchtet, dass sie denkt, er würde sich und sie aufgeben, wenn er ausspricht, dass er bald sterben muss.“
„Kompliziert!“
„Finden
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