Die Flotte von Charis - 4
bevor er sich in seine Koje zurückzog.
Er hatte sorgfältig darauf geachtet, seinem Vater und seiner Mutter nicht zu nahe zu kommen, während er darauf wartete, dass sie unter Deck gingen. So konnte er diese selbst auferlegte zusätzliche Aufgabe übernehmen, ohne sich die zweifellos sarkastischen Bemerkungen anhören zu müssen, die sie sich gewiss nicht hätten verkneifen können, wenn sie gewusst hätten, was er im Schilde führte. Doch er war seinen Eltern nahe genug, um zu sehen, wie seine Mutter ruckartig den Kopf hob, als plötzlich irgendwo am Pier laute Stimmen zu hören waren. Greyghor versuchte immer noch herauszufinden, woher genau sie eigentlich kamen, als er plötzlich den grässlichsten Schrei hörte, den er jemals in seinem Leben vernommen hatte.
Ruckartig sprang er von der Taurolle auf, die ihm bis eben als Sitzplatz gedient hatte, und lief direkt auf seine Mutter zu, die gerade mit drei oder vier großen Schritten auf der pierwärtigen Seite des Schiffes an das Schanzkleid herantrat. Ihre Hände umklammerten die Reling, und sie spähte auf den Anlegesteg hinab.
»Wer seid ihr?!«, rief sie plötzlich aus Leibeskräften. »Was macht ihr hier?«
Der Ruf, der zur Antwort auf diese Frage erscholl, war zu undeutlich, als dass Greyghor ihn hätte verstehen können. Irgendetwas hat es wohl mit ›Namen von Mutter Kirche‹ zu tun, dachte er, als er hörte, wie sein Vater, der in der Nähe des Bugs stand, seiner Mutter mit drängender Stimme irgendetwas zurief.
»Zurück!«, bellte seine Mutter. Rasch kletterte sie die steile Treppe hinab, die zum Achterdeck führte, und marschierte dann geradewegs auf die Laufplanke zu. »Zurück, sage ich!«
»Wir kommen an Bord!«
Diese Mal verstand Greyghor den Ruf deutlich, der vom Anlegesteg kam, obwohl der Rufer mit schwerem Delferahk-Akzent sprach.
»Shan-wei werdet ihr tun!«, gab seine Mutter lautstark zurück und griff nach einer Belegklampe neben der Einstiegsluke. »Das ist das Schiff meines Mannes, und ihr Mistkerle werdet nicht …«
Der dumpfe, fleischige Laut, den der Armbrustbolzen machte, als er den Körper seiner Mutter durchschlug und eine gewaltige Blutfontäne aufspritzen ließ, war das Fürchterlichste, was Greyghor Walkyr jemals gehört hatte.
Die Wucht des Aufpralls schleuderte sie zur Seite, ohne dass sie auch nur einen einzigen Laut ausstieß.
»Mutter!«, kreischte Greyghor. Er rannte über das Deck auf sie zu, und währenddessen hörte er vom Anlegesteg aus weitere Rufe − Rufe voller Zorn, als würde sich jemand streiten. »Whystlyr, Sie gottverdammter Idiot!«, bellte Allayn Dekyn. »Ich habe gesagt, es wird nicht geschossen!«
»Aber diese Ketzerschlampe wollte …«, setzte der Soldat zum Protest an.
»Es ist mir scheißegal, was die tun wollte! Wir sind doch nicht hier, um irgendwelche Frauen umzubringen, die bloß …« Greyghor erreichte seine Mutter. Das Leben an Bord eines rahgetakelten Segelschiffes war nicht sonderlich leicht, und niemals ganz gefahrlos. Greyghor hatte schon gesehen, wie Männer in Unfällen ums Leben gekommen waren, aus den Wanten auf das Deck hinabgestürzt, und bei mindestens einem hatte er miterlebt, wie er über Bord ging und dann ertrunken war. Und als er nun seine Mutter anblickte, die in einer immer größer werdenden Blutlache an Deck lag, eine entsetzliche Wunde in der Brust, erkannte er sofort auch hier den Tod.
Er rief nicht noch einmal nach ihr. Er rief auch nicht nach seinem Vater. Er dachte nicht einmal mehr. Er sprang nur zu der Reling hinüber, vor der sein Vater die schwenkbare ›Wolf‹ hatte montieren lassen, nachdem irgendjemand die Mannschaft der Galeone Diamond in einer Seitengasse von Ferayd zusammengeschlagen hatte.
Die leichten charisianischen Kanonen, die man als ›Wölfe‹ bezeichnete, wurden mit verschiedenen Kalibern gefertigt und feuerten Geschosse unterschiedlicher Größe ab. Die ›Wolf‹ auf dem Drehzapfen der Wave hatte einen Innendurchmesser von anderthalb Zoll und verwendete Geschosse, die etwas weniger als ein halbes Pfund wogen. Doch im Augenblick war es mit einem ganzen Sack Musketenkugeln geladen, und Greyghor Walkyrs Augen blitzten, als er die Waffe herumschwenkte, sie auf die Männer ausrichtete, die gerade den Laufsteg emporkamen; hastig griff er nach der Lunte, deren Glimmen für jeden Beobachter auf dem Anlegesteg hinter dem Schanzkleid des Schiffes verborgen gewesen war.
Mit dieser Lunte berührte er nun die Zündmasse der ›Wolf‹, und ein
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