Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
dass man sie vielleicht hören konnte. Denn eindeutig waren die Geräusche, die bald von unterhalb des Weidenbaumes bis weit übers Klostergelände zu vernehmen waren.
Und tatsächlich gab es da jemanden, der diesen lustvollen Lauten mit eiserner Miene lauschte. Ulrich hatte sich aufgemacht, nach Marie zu sehen. Die Zeiten des tatenlosen Wartens auf die Rückkehr seiner Frau waren vorüber. Er kannte nun ihre Geschichte, er wusste um die Gefährlichkeit ihres Ziehvaters Vitus Fips, sie hatte ihm alles anvertraut, und somit fühlte er sich ihr stärker verbunden als je zuvor. Ulrich spürte mehr denn je den unwiderstehlichen Drang, sie zu beschützen, ihr einen nie erlebten Halt und die ersehnte Geborgenheit zu spenden. Ja, er war trotz der schrecklichen Umstände, in denen sie sich auf ihrer Reise wiederfanden, als einer der wenigen in den letzten Tagen glücklich gewesen und hatte sich sogar an den hoffnungsvollen Gedanken geklammert, mit Marie in einem fernen Land ein neues Leben zu beginnen. Bloß war er sich nicht sicher, ob auch sie dies wollte.
Jetzt, wo er allein auf einer steinernen Bank im Mondschein hockte, von rechts das engelsgleiche Singen der Klosterfrauen vernahm und von vorn das leidenschaftliche Stöhnen zweier Sünder, jetzt wurde Ulrich Filzhut endlich bewusst, wie sehr er Marie die ganze Zeit über gequält hatte. Sie war kein Weib wie seine fromme Elsa, Gott hab sie selig, das sich schweigend seinem Schicksal ergab. Denn auch wenn Marie nur wenig sprach, so war sie dennoch keine Willenlose. In ihr loderte ein gefährliches Feuer, und Ulrich war es in ihrer gemeinsamen Zeit weder gelungen, dieses Feuer zu löschen, noch es weiter zu entfachen. Er war dieser Frau gegenüber machtlos und liebte sie zugleich. Doch sie schien auf einen anderen gewartet zu haben, einen, der ihr jetzt begegnet war. Wie eine Blume hatte sie sich in letzter Zeit entfaltet, das war Ulrich nicht entgangen. Ihre Wangen waren stets gerötet, ihre Augen leuchteten, ihr Haar glänzte, und trotz der kargen Kost und der die Gruppe umgebenden Krankheit war sie üppiger geworden, zumindest hatte dies den Anschein. Ulrich freute sich für Marie, aber er hasste Konrad von Tiefenbrunn dafür, dass er es war, dem es gelang, ihren wahren, wunderbaren Kern bloßzulegen. Und das allein durch seine pure Anwesenheit, durch Blicke und sehr wenige Worte. Denn Ulrich hatte bislang ein scharfes Auge auf beide gehabt und wusste genau, dass eine körperliche Annäherung nie zustande gekommen war.
Nicht bis zu diesem Zeitpunkt.
Das quälte ihn sehr.
Ulrich hielt sich die Ohren zu, kniff die Augen zusammen und zog seine dünnen Beine hoch auf die kalte, steinerne Bank, um in dieser Kauerstellung zu verharren. Es nützte nichts, er hörte es trotzdem und glaubte sogar die rhythmischen Schwingungen der Liebenden wahrzunehmen, was beileibe nicht möglich sein konnte. Fester und fester presste er die Hände auf die Ohren, bis nur noch ein dumpfes, dunkles Rauschen in seinem Schädel zu hören war.
Wie lange er so dasaß, wusste er nicht.
War es nur ein Augenblick? Waren es Stunden? Gar die ganze Nacht?
Irgendwann legte sich eine Hand auf Ulrich Filzhuts Schulter und ließ ihn aufschrecken. Es gelang ihm kaum, seine Augen zu öffnen, so fest hatte er diese geschlossen gehalten, all seine Glieder waren verkrampft oder eingeschlafen, und die Ohren schmerzten entsetzlich.
Die Hand streichelte sanft über seinen Rücken.
» Marie? « , flüsterte er und blickte sich um.
Tatsächlich, da stand sie hinter ihm. Ihr Haar war gelöst und wirr, ihr Gesicht schmutzig, dicke Tränen liefen an ihren Wangen herunter und wuschen saubere Streifen in den trocknenden Schmutz auf ihrer Haut.
» Warum weinst du? « , fragte Ulrich. Er konnte sich selbst nicht erklären, weshalb er nicht aufstand und ihr eine gehörige Maulschelle verpasste. Mehr als verdient hätte sie es.
» Lass uns hineingehen « , meinte sie bloß mit belegter Stimme, half ihm auf und schleppte ihren Gemahl mit dessen verkrampften Gliedern und den wunden Füßen zurück ins warme, trockene Gästehaus, in dem bereits alle anderen in einen tiefen Schlaf gesunken waren.
Lediglich Maja wachte am Krankenlager der jungen Lisa. Stumm wandte sie sich zu Ulrich und Marie um und warf ihnen einen kurzen wissenden Blick zu, um sich dann wieder dem fiebernden Mädchen zu widmen.
XXVII
D a ist es! Hab ich es Euch nicht gesagt, verehrungswürdiger Bruder Crispin? Wenn Regino den Weg finden will, dann
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