Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
lebendig vor den Toren der Ordensfestung. Er musste eingeweiht werden, er musste erfahren, dass der von ihm während seiner letzten Litauenreise zurückgelassene Roderich von Topfen von den Heiden lebendig verbrannt worden war, er musste einsehen, dass es besser für ihn war, ein neues Leben unter einem neuen Namen zu beginnen, wenn er nicht das Opfer einer rachsüchtigen Familie werden wollte. Crispin war sich nicht sicher, ob Konrad dies einsehen würde. Zu stolz war er, zu sehr von seiner eigenen Ehre und Kraft überzeugt. Gewiss würde er sich dem Feinde stellen wollen. Doch diesem Gegner begegnete man nicht auf dem Schlachtfeld. Es war kein Kräftemessen Mann gegen Mann, das Konrad erwartete: Man würde ihn wie einen Dieb in Gewahrsam nehmen, ihn vor Gericht stellen, ihm eventuell sogar gotteslästerliche, teuflische Dinge unterstellen und diese unter der Folter aus ihm herauspressen, so wie es bei den Templern gewesen war. Das Urteil war bereits gesprochen, und hier nützte keine Ritterlichkeit mehr.
Crispin wusste, dass er durch den als Kind erlebten Schock angesichts des brutalen Untergangs des Templerordens zu vorsichtig geworden war, aber er wusste auch, dass diese erlernte Vorsicht nun Konrad das Leben retten könnte. Und deshalb würde er ihn finden müssen. Vielleicht konnte ihm einer von den Menschen, die hoffentlich bald aus diesen Mauern herausgeschickt wurden, weiterhelfen.
So dachte er gerade, als sich plötzlich knarrend eine Hälfte des Tores öffnete. Und tatsächlich ganz langsam acht gebeugte, schwächliche Gestalten hinausschritten. Sobald der Letzte von ihnen das Klostergelände verlassen hatte, krachte die Türe wieder hinter ihnen schwer zu und wurde sogleich eilig und geräuschvoll von innen verriegelt.
Crispin fuhr vor Schreck zusammen, sogar sein bis dahin friedlich grasendes Pferd scheute und stob einige Fuß weit davon. Es waren nicht etwa die armen Menschen, die Ritter und Ross so entsetzten. Nein, es war– welch Wunder– Regino. Einen schrillen Freudenschrei stieß er aus und rannte mit ausgebreiteten Armen und langen Schritten strahlend auf die grauen, traurigen Gestalten zu, die ebenso verwundert und entsetzt dreinschauten wie Crispin.
» Da bin ich wieder! Da bin ich wieder! « , rief Regino, umarmte einen jeden Einzelnen, küsste die Frauen sogar auf den Mund und sparte dabei nicht einmal ein uraltes Weiblein aus.
» Sicherlich habt ihr euch gefragt: Wo ist er hin, der Regino? Warum ist er verschwunden bei Nacht und Nebel? Hat er uns verlassen? Ist er einfach auf und davon? «
Der Gaukler hatte sich nun vor der stumm dastehenden, immer noch schweigenden Gruppe aufgebaut und begann eine Rede, die– das musste Crispin ihm zugestehen– nicht übel klang, obwohl ihr Inhalt von vorne bis hinten erstunken und erlogen war.
» Nein, das ist er nicht. Regino musste fort. Zu euer aller Wohl hatte ich die Pflicht auf mich zu nehmen, für ungewisse Zeit von dannen zu ziehen, um Erkundigungen über den Fortgang unserer Reise einzuholen « , so sprach der Gaukler zunächst laut. Dann jedoch wurde seine Stimme leiser und trauriger: » Denn, und das habt ihr leider, wie mir zu Ohren gekommen ist, bereits am eigenen Leibe erfahren müssen: Das große Sterben hat eingesetzt. Ja, das große Sterben. Ich fürchte mich, meine Augen über euch schweifen zu lassen und feststellen zu müssen, wen von euch es getroffen hat. Wer sind die Unglücklichen? Ach, nein « , er wandte den Blick theatralisch von den Leuten ab und schaute eine Weile betreten zur Seite. Tränen stiegen ihm in die Augen. Dann begann er leicht zu lächeln, mit noch immer feuchtem Blick drehte er den Kopf langsam wieder zurück zu seinen Zuhörern: » Wir wollen nicht die Toten zählen, sondern uns über die Lebenden freuen. Wen sehe ich wohlbehalten vor mir? Meine liebe Maja, du bist noch da. Marie, auch dir ist nichts zugestoßen. Selbst der Filzhut lebt– welch Glück. Johann, der pfiffige Johann, er weilt unter uns. Und auch die Liebe zwischen unserem starken Wilhelm und seiner Anna, sie wird hoffentlich weiter irdischen Bestand haben. Der Knabe Fritz, auch du bist da. Geht es dir nicht gut? Es wird gewiss bald besser werden. Und, ach, welch anmutige Gestalt: die junge Adelheid! Auch sie hat diese Mauern verlassen, um weiter mit uns zu gehen. Gesund seht Ihr aus, mein verehrtes Fräulein. Das sind sie, die Lebenden. In stiller Stunde werden wir der Verstorbenen gedenken. Glaubt mir, ich sehe ihre Gesichter schmerzhaft
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