Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
seinen bittersten Stunden an Gott zu zweifeln begann. Ja, man hatte ihn sogar des Nachts auf dem Kirchhof gesehen, wo er laute, unflätige Flüche in Richtung Himmel ausgestoßen haben sollte. Sein neues Weib habe ihn daraufhin beruhigt und nach Hause geführt. Sie selbst – so hieß es – war die Einzige im Hause, die vom Feuer vollkommen verschont geblieben war. Warum dies so war, darüber wurde man bald müde, sich das Maul zu zerreißen, denn der Frühling stand ins Haus, der Neubeginn, der Wandel. Es gab viel zu tun, und auch wenn Hunger, Seuchen und anhaltend düstere Zukunftsaussichten die letzten Jahre geprägt hatten, so war die Hoffnung auf Gnade dennoch nicht gänzlich verloren.
Das Leben musste weitergehen.
So lange zumindest, bis es Gott gefiel, tatsächlich den allerletzten Tag auf Erden einzuläuten.
» Ihr glaubt es nicht, Ihr glaubt es nicht.
Liebe Leut, liebe Leut,
die Botschaft, die ich bringe heut,
ist so froh, so gut, so wunderbar
da jauchzt das Schwein am Spieße gar. «
Marie traute ihren Ohren kaum. Es war der erste sonnige Frühjahrstag nach der so tödlichen, kalten Jahreszeit, und sie war gerade dabei, nach den soeben geborenen Kaninchen zu schauen, als sie diese seltsamen lauten, frivolen Klänge vernahm. Zunächst war es nur ein melodisches Pfeifen gewesen, dann hatte die durchdringende Stimme zu singen begonnen. Nicht einmal die Kirchturmglocken des nahen Klosters hatten sie zu übertönen vermocht.
Wie durch einen Paukenschlag wurden die Bewohner des kleinen, traurigen Ortes daran erinnert, dass das Leben offensichtlich auch lustige Seiten bereithielt.
» Meister Lenz ist da! « , riefen einige Buben und Mädchen und rannten über den holprigen Weg an dem stillen, kinderlosen Haus des Bauern Filzhut vorüber in Richtung des singenden Mannes, der gewiss auf dem Dorfplatz unter der Linde zu finden war.
» Ein Fremder ist in den Ort gekommen « , berichtete Marie ihrem Mann aufgeregt, nachdem sie in die Kate zurückgegangen war.
Aber Ulrich kümmerte sich nicht um Maries Worte. Er kümmerte sich um gar nichts mehr. Alles Leben, alle Freude hatten ihn verlassen. Mit dem Tod seiner Kinder war auch sein eigenes Dasein lediglich zu einem mühseligen Fortbestehen geworden. Selbst die Fürsorge seiner jungen Frau konnte ihn nicht aufmuntern, sodass er die meiste Zeit des Tages damit verbrachte, dumpf auf einer Bank in der dunkelsten Ecke des kleinen Häuschens zu hocken.
» Komm, guter Ulrich, wir wollen nachschauen gehen, wer der fremde Mensch ist « , forderte Marie ihn nun auf, ihr hinaus an die frische Luft zu folgen.
Es war ein herrlicher Tag und das Erscheinen des Musikanten im Dorf ein willkommener Anlass, Ulrich Filzhut seine tiefe Trauer für einen Moment vergessen zu lassen. In dessen Gesicht zeigte sich wahrlich mehr vom Tode als vom Leben. Wenn er weiterhin in solch tiefer Trauer versank, würde Marie ihn bald neben seiner ersten Frau und seinen drei Kindern auf dem Kirchhof zu Grabe tragen müssen. Dann wäre sie allein, ihr Gewissen wäre befreit, und sie könnte gehen, ohne jemanden verlassen zu müssen. Doch das wollte sie nicht. Sie mochte diesen kauzigen, alternden Mann, und noch lieber hatte sie dessen Kinder gehabt, um welche sie in jeder Nacht weinte. Es war ihre Pflicht, dafür zu sorgen, dass es Ulrich wieder besser ging, dass er ins irdische Leben zurückfand, und darum zog sie ihn nun an der verkrüppelten, noch immer verbundenen Hand von seiner Bank. Willenlos folgte er ihr und trottete langsam mit gesenktem Kopf neben seiner Frau her zum Dorfplatz.
Hier war bereits eine ganze Reihe von Leuten versammelt. Bis auf den Pfarrer und den Meier hatten sich sämtliche Dorfbewohner, die den harten Winter überstanden hatten, eingefunden, um den Fremden kritisch in Augenschein zu nehmen. Blass waren sie allesamt, und selbst die wenigen, die noch im letzten Jahr einen stattlichen Bauch vor sich hergetragen hatten, wirkten nach den entbehrungsreichen Monaten eingefallen und krank. Wie eine Schar lebendiger Toter umringten sie nun einen Mann, dessen Erscheinung im größtmöglichen Kontrast zu seinem grauen, fahlen Publikum stand.
Denn dieser Mann war schlicht und einfach bunt. Ja, alles an ihm leuchtete in den schillerndsten Farben. Vom Wams über die enge Hose und die lustige Kappe bis hin zu den spitzen Schuhen– ein Pfau hätte nicht glänzender und prächtiger sein können. Das jedoch, was am meisten an ihm funkelte, waren seine Augen, und mit diesen blickte
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