Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
sich aber das Lachen nicht verkneifen.
» Macht nur « , winkte Ulrich ab und strich seinem Jüngsten mit seiner prankenartigen, abgearbeiteten Hand über den Wuschelkopf. » Wer in solch schlechten Erntezeiten wie diesen über derart prächtiges Obst verfügt, der darf gern einmal etwas davon hergeben. «
» Lauft Kinder, bringt eurem großen Bruder den dritten Apfel. Ihr braucht so hart verdienten Lohn nicht mit uns zu teilen. Lasst es euch schmecken « , rief Marie und sah den beiden Kleinen hinterher, wie sie fröhlich zurück zu der niedrigen, moosbedeckten Hütte rannten.
In manchen Momenten beneidete Marie diese Kinder. Bitterarm waren sie, ihre Mutter hatten sie verloren, litten oft Hunger, aber dennoch blieben sie so unbeschwert, so fröhlich, was allein an der Liebe lag, die ihnen zeit ihres Lebens zuteil geworden war und die sie so freigiebig an sie, die Fremde, weitergaben. Stolz müsste sie sein auf dieses unbezahlbare Geschenk. Doch Marie war vielmehr peinlich berührt von der unverdienten Zuneigung, welche ihr von diesen kleinen Menschen entgegengebracht wurde. Manchmal wünschte sie sich gar, ihre Stiefkinder würden sie verabscheuen und Ulrich wäre ein garstiger, brutaler Trunkenbold– denn das hätte ihr den Abschied erleichtert.
Und so zogen die Monate ins Land.
Der Winter nahte, und mit ihm die Furcht vor dem Hunger. Maries schlechtes Gewissen blieb, und mit ihm die Albträume. Immer wieder sah sie des Nachts das Gesicht ihres Peinigers vor Augen, und jedes Mal sprach er die gleiche Aufforderung, ja Drohung an sie aus: » Ich finde dich. Wir gehören zusammen. «
Es war ein deutliches Zeichen. Marie würde nicht mehr lange bleiben können, denn auch tagsüber beschlich sie mitunter das untrügliche Gefühl, dass er sie nicht nur in ihren Träumen aufsuchte. Manchmal, wenn sie allein oder auch in Begleitung von Gretchen in den Wald ging, um Brennholz zu sammeln, da meinte sie ihn mitunter hinter einem umgestürzten Baum lauern zu sehen. Ja, sie glaubte deutlich seine entstellte, vernarbte Fratze erkennen zu können. In solchen Momenten kam es vor, dass sie das mühsam zusammengesuchte Reisig fallen ließ, das verdutzte Kind an die Hand nahm und hastig davoneilte. Ulrich erzählte sie nichts von ihrer Furcht, und der kleinen Grete erklärte sie ihr seltsames Verhalten mit der Lüge, einen Wolf gesichtet zu haben.
Doch während Maries Angst vor ihrem Verfolger eher einem panischen Wahn glich und sie sich selbst oft den Vorwurf der bloßen Einbildung machen musste, so erwies sich eine andere Befürchtung bald als schreckliche Wahrheit: Der Hunger stand bedrohlich vor den Türen der Hütten und Höfe. Noch vor Weihnachten waren sämtliche ohnehin mageren Kornspeicher leer, und auch das ebenfalls hungernde, dürre Vieh erweckte nicht den Eindruck, sämtliche Bewohner des Dorfes über den Winter bringen zu können. Baumrinde, Eicheln, Frösche, Spatzen und Katzen würden als Nahrung dienen müssen– so ekelerregend dies auch klang, wäre es dennoch nicht das erste Mal gewesen. Man machte sich also darauf gefasst, dass es in den kommenden kalten Monaten viel Leid und auch Tote geben würde.
Doch dann geschah ein Wunder, denn eines Sonntags verkündete der Pfarrer in der winzigen, hölzernen Kirche, dass der Grundherr seinen Hintersassen von seinem Korn abgeben werde. Eine großzügige Gabe sei dies, denn auch der Ritter selbst habe nun das dritte Jahr in Folge große Ernteverluste eingefahren und somit keinerlei Überschüsse erwirtschaftet.
Mit Freuden wurde der Wagen erwartet, welcher gleich einen Tag später eine Ladung Roggen brachte, von dem sich jeder pro Mann und Frau einen Viertel, pro Kind einen Achtel Scheffel nehmen durfte.
» Drei Hände voll Roggen sollen uns also über den Winter bringen. Da müssen wir dann wohl auf Almosen des Klosters hoffen, sonst werden wir eingehen wie die Fliegen « , murmelte Ulrich mürrisch, während sich sein ältester Sohn daranmachte, das Säcklein, welches tatsächlich mickrig vor ihnen auf dem Tisch lag, aufzuknüpfen.
» Seltsam riecht das « , meinte der Zwölfjährige nur und hielt nun auch seiner Schwester Grete den Sack unter die Nase.
» Das hat schon gestunken, als wir es geerntet haben « , erinnerte sich Ulrich kopfschüttelnd.
» Lasst, Kinder, es ist noch feucht, wir werden es auf dem Speicher trocknen und dann zur Mühle bringen « , versuchte Marie sie alle zu beruhigen, nahm den Sack vom Tisch und trug ihn die steile Leiter,
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