Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
das sagte sie nicht nur so, nein, sie empfand genauso wie Regino. Der Anblick der sich eigentümlich gebärdenden Maja war ebenso belebend wie der kalte, feuchte Stein, auf dem sie saß. Es vertrieb die Einsamkeit zu wissen, dass es auch andere Menschen gab, die nicht so waren, wie es das von Kirche und Reich gepriesene Prinzip der Ordnung vorsah. Eine Ordnung, die König und Kurie an der Spitze, den Adel und den Klerus in der Mitte, eine etwas lästige, aber dafür reiche, freie Stadtbürgerschaft darunter und schließlich die hart arbeitende Bauernschaft am breiten Boden kannte. Für ausgefallene, andersartige Menschen wie Zigeuner, Juden, Gaukler, Scharfrichter und sonstige Ehrlose war in dieser Pyramide kein Platz. In Majas Sternkreisen, die sie nun seit Stunden so beseelt und unermüdlich abschritt, war das anders. Sie boten Platz für jeden, auch für den Auswurf, die Ausgestoßenen, die Andersartigen. Zumindest erschien es Marie in dieser Nacht so, und das ließ sie nun ein wenig lächeln.
Regino bemerkte dies. » Froh stimmt es mich, dass es dir trotz allem gutgeht, Marie. Eines wüsste ich gern: Ich frage mich, ob du eigentlich jemals gespürt hast, dass du verfolgt wirst. «
» Nein. Aber es wird gewiss alles gut. Er wird nun mit uns kommen, und ich denke, dass er auch bald seinen Mund halten wird « , antwortete Marie in dem Glauben, Regino spräche von Ulrich.
» Es geht nicht um diesen Klotz an deinem Beine, Marie. Der ist zwar lästig, aber nein, es geht um eine noch anhänglichere Schmeißfliege, über die wir nun endlich einmal reden sollten. «
Reginos Stimme klang mit einem Mal so ungewohnt vernünftig.
» Vitus? « , fragte Marie und wunderte sich, wie ruhig sie doch blieb. Ganz so, als habe sie dieses Gespräch erwartet, ja erwünscht.
» Ebendieser. «
» Dann kennst du ihn. «
» Oh ja. «
Marie verstummte für eine ganze Weile und wandte ihren glasigen Blick auf die sich drehende Maja.
» Seid ihr Freunde? « , fragte sie dann leise.
» Weh mir, nein, wir sind… wie soll ich es ausdrücken …? Wir sind eine dem Zwecke dienende Gemeinschaft, deren Wege sich mitunter kreuzten und kreuzen werden. «
» Ist er auch jetzt in der Nähe? « Unwillkürlich blickte Marie sich um. Plötzlich saß ihr die Angst in Gestalt des Phantoms Fips wieder im Nacken.
» In Quedlinburg sahen wir uns zuletzt « , antwortete Regino. » In Aschersleben wäre der nächste vereinbarte Ort gewesen. Doch wie du weißt, habe ich mich entschieden, nicht dorthin zu ziehen. «
» Und weshalb nicht? « Marie versuchte sich wieder zu beruhigen und sich auf dieses so wichtige Gespräch zu konzentrieren.
» Weil er mir mehr und mehr zuwider wird, dieser Vitus Fips, und weil ich darüber nachdenke, ohne ihn den Weg ins Altvatergebirge zu finden. «
» Er hat dir also den Weg gewiesen. «
» Nicht nur das. Er hat im Grunde dieses ganze Abenteuer ausgeheckt. Ich spiele nur den Lokator, den Moses, der eine Schar Hoffnungsvoller ins Heilige Land führt. Voller Kraft, voller Tatendrang bin ich, doch mir fehlt, worüber Fips in hohem Maße verfügt: die Erfahrung, die Verbindungen. « Dabei räusperte sich Regino in die Faust. Es war ihm nicht angenehm, dies alles zu beichten.
» Er ist also deine rechte Hand? Nein, was sag ich: Er ist das Herzstück dieser ganzen Unternehmung? « Marie war zu verblüfft, um entsetzt über das zu sein, was sie da hörte.
» Das kann man fast so sagen. «
» Du hast dich mit ihm getroffen. Immer wieder auf dieser Reise. Ist es so? « , bohrte sie weiter.
» Ja. Er weist mir den Weg, und ich zahle meine Schulden in Raten an ihn ab. «
Marie schnaubte. Sie hatte so etwas bereits geahnt, aber nie wahrhaft für möglich gehalten. Fips war ihnen also tatsächlich auf den Fersen gewesen. Die ganze Zeit über.
» Warum diese Heimlichkeiten, Regino? Was will er mit diesen Menschen? Will er sie verkaufen? « Ihr Mund war vollkommen trocken. Dumpf vernahm sie im Hintergrund das Schnarchen der Schlafenden und das monotone Summen der Sternenguckerin Maja.
» Nein… ich weiß es selber nicht genau. Lediglich ans Ziel soll ich euch führen, das ist mein Auftrag. « Regino war verlegen. Er kratzte sich ununterbrochen am Knie. » Gold soll es dort im Überfluss geben, so sagte er mir. Heimliches Gold. Niemand darf davon wissen. Insbesondere nicht die Obrigkeit. «
» Ich verstehe nicht « , flüsterte Marie. » Ist es Zufall, dass du ausgerechnet in mein Dorf gekommen bist, um nach
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