Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
ungeduldig über seine Schulter ins Nichts. Ihm war sehr daran gelegen, noch am heutigen Tage diese natürliche Barriere zu überwinden, denn immerhin lebte der Verfolger noch und könnte ihnen weiterhin auf den Fersen sein. » Befestige das Seil sicher auf der anderen Seite des Ufers, sodass die Übrigen sich beim Hindurchwaten daran festhalten können « , riet er dem mutigen Burschen.
Und dann warf er in ebenfalls feierlicher Manier eine Handvoll rostiger Römermünzen, von denen er nach wie vor einige mit sich herumtrug, in die Fluten.
» Gott, sei uns gnädig! « , rief Regino danach und nahm seinerseits einen Stock in die Hand, den er, sein Vorbild Moses nachahmend, in heroischer Geste auf die Saale hielt. Doch leider teilte sich das Wasser nicht. Dennoch gab Regino nicht auf und nickte dem noch zögerlichen Wilhelm angestrengt zu, womit er diesem verdeutlichen wollte, er möge sich doch nun endlich auf den Weg machen, bevor dem Gaukler der Arm erschlaffte.
Und tatsächlich: Regino schaffte es.
Er schaffte es, die ganze Zeit über den morschen, leichten Stamm mit ausgestrecktem Arm aufs Wasser zu richten. So lange, bis Wilhelm glücklich die andere Seite des Ufers erreicht hatte, bibbernd und schlotternd zwar, triefend nass und nicht ohne zwei, drei Mal ein wenig abgetrieben worden zu sein, aber lebendig.
Erschöpft ließ Regino den vermeintlichen Mosesstab fallen, schloss die Augen und erwartete das anerkennende Jubeln der anderen. Und dieses Jubeln kam auch tatsächlich. Zwar galt es der ausgesprochen tapferen Leistung des Schwimmers, doch da Reginos Augen geschlossen waren und seine Fantasie rege, konnte ihn das nicht von der Freude an seiner eigenen Heldentat abhalten.
Aber die Gefahr war noch nicht ausgestanden.
» Mach ein Feuer, damit wir uns gleich alle trocknen können! « , rief Maja dem glücklichen Wilhelm über den Fluss hinweg zu, bevor sie sich nun allesamt nach und nach ängstlich daranmachten, sich an dem Seil entlang über die Saale zu hangeln.
Es gelang.
Es gelang Lisa und Anna.
Es gelang Adelheid und Elisabeth.
Es gelang Josef, Gustav und Fritz.
Es gelang sogar Johann.
Es gelang Maja.
Natürlich gelang es auch Regino.
Doch als Marie mit der Hilfe des Knechtes Otto den fußlahmen Ulrich hinüberbringen wollte, geschah ein Unglück.
Otto, anscheinend von einem kurzen Schwäche- oder Panikanfall heimgesucht, rutschte aus, ließ den Alten los und klammerte sich stattdessen selbst mit beiden Händen an das Seil. Marie versuchte Ulrich zu halten und schaffte es tatsächlich, ihn am Gürtel wieder zurückzuziehen, sodass auch er mit zitternder Hand das Seil zu fassen bekam. Gerade bemühte sie sich, ihm behilflich zu sein, auch die andere Hand um das Tau zu legen, als sie selbst auf dem glitschigen Untergrund den Halt verlor und rückwärts ins Wasser fiel.
Marie konnte nicht schwimmen.
Sie fand mit ihren verzweifelt im Wasser tretenden Beinen auch den Untergrund nicht wieder. Die Strömung packte sie und trieb sie flussabwärts, noch bevor die zur Rettung eilenden Burschen vom anderen Ufer zur Stelle waren.
Immer wieder tauchte ihr Kopf unter Wasser.
Sie schluckte Unmengen des grünen, algigen Nass, schlug manches Mal unsanft an Geröll und Geäst an und schaffte es in ihrer Panik nicht, einen der wenigen rettenden Äste zu packen, die über dem Flusse hingen.
Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, in der sie dahintrieb.
Ein schrecklicher Kampf war es. Ein Kampf mit dem Tod, in dem sie sich als ausgesprochen widerspenstig erwies. Widerspenstig, aber leider nicht geschickt genug, um diesem auf Dauer zu entrinnen.
Gleich war es so weit. Das spürte sie. Gleich würde alles vorüber sein.
Und tatsächlich: Ein letzter Schluck Saalewasser, der sich zum Teil in ihre Lunge ergoss, und eine angenehme, ja warme Dunkelheit umschloss Marie. All ihre Glieder entspannten sich, und das Letzte, was sie dachte, war, dass es dumm von ihr gewesen war, gegen etwas anzukämpfen, was sich als so wunderbar herausstellte.
Ja, der Tod, er kam. Und er war alles andere als entsetzlich. Warum nur fürchtete man sich so sehr vor ihm?
So dachte Marie und hörte auf zu kämpfen.
Dann jedoch– im angenehmsten, wärmsten Moment– wurde sie gegriffen.
Hart wurde sie gegriffen.
Ihr Arm wurde dabei ausgekugelt, und mit dem Schmerz kehrte auch das Leben in Marie zurück. Einen Moment später wurde sie wie ein frisch gefangener, dicker Fisch auf den matschigen Boden des Ufers geklatscht. Noch war sie
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