Die Flucht: Roman (German Edition)
Schicksalsschläge. Hastig klaubte er in der Umgebung etwas Stroh zusammen und legte es der Ziege vor das Maul. Dann schnappte er sich mit den blutverschmierten Fingern die Zitzen und zog an ihnen. Sie dehnten sich, als wären sie aus warmem Gummi, doch heraus kam nichts. Er lockerte sich die Fingerglieder und massierte das Euter. Spuckte sich in die Handflächen und rieb sie, wobei sich ein Film aus Blut, Ruß und Spucke auf der Haut bildete. Ein erneuter Versuch. Ungelenk glitten die Finger abwärts, bis endlich ein paar Tropfen hervorquollen. Derweil kaute die Ziege knackend vor sich hin. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis er halbwegs etwas wie einen Strahl zustande brachte. Aber die Büchse war zu eng, weshalb es ihm zunächst nicht gelang, die Flüssigkeit in die Öffnung zu lenken, und die Milch auf den staubigen Boden spritzte. Schließlich hielt er die Büchse direkt unter die Zitze und molkmit einer Hand weiter. Als er ein paar Fingerbreit Flüssigkeit zusammengebracht hatte, sprang er auf, um nach dem Alten zu sehen.
Während er mit dem Tier beschäftigt gewesen war, hatte die Sonne den Mauerrand überschritten und prallte nun auf der anderen Seite des Turms herab. Der Alte lag vollkommen ungeschützt am Boden, scheinbar bewusstlos, sodass der Junge schon glaubte, er käme zu spät. Vergebens zerrte er ihn am Ärmel, ohrfeigte ihn. Dann beschloss er, ihn in den Schatten zu bringen. Er packte ihn unter den Achseln und zog, aber er war zu schwer. Plötzlich befiel ihn eine bleierne Müdigkeit und er bemerkte den seit Stunden an seinem Gaumen lauernden Durst, den er in der Hektik verdrängt hatte. Er löschte ihn mit der Milch aus der Blechbüchse, die er noch lange, nachdem er sie bis auf den letzten Tropfen geleert hatte, an die Lippen gepresst hielt.
Er marschierte über hart verkrustetes Erdreich auf der Suche nach dem Esel, der Erinnerungen an alte Ackerfurchen abweidete. Beleg dafür, dass schon andere vor ihnen hier gewesen waren, bemüht, der Einöde abzutrotzen, was sie hartnäckig festhielt. Die verfallene Burg war Zeuge. Am zerfledderten, bis zum Boden herabhängenden Seil führte er den Esel schließlich zurück. Ein folgsames Tier, das klaglos die Geschwüre von den scheuernden Fußfesseln an den Gelenken hinnahm. Schütteres Fell mit kahlen Stellen, getrocknete Lehmreste im Schopf. Spuren vom Röhrichtfeld bei dem verlandeten Teich.
Der Halfterstrick war nicht lang genug, um den Körper des Alten daran festzubinden. Unschlüssig stand derJunge da und schaute sich nach etwas um, das ihm als Geschirr oder Seil für den Transport des reglosen Körpers dienen konnte. Doch statt etwas Brauchbarem entdeckte er auf der Suche die braunen Kippen des Polizeiwachtmeisters neben dem Kopf des Hirten. Bei der Vorstellung, dass seine Häscher geraucht hatten, während sie zusahen, wie die Tragekörbe in Flammen aufgingen, presste er unwillkürlich die Zähne zusammen.
Er hob die Füße des Hirten an und band das Seilende um dessen Knöchel. Der Strick war so kurz, dass die Stiefel des Alten fast unter dem Maul des Esels hingen. Widerwillig wich das Tier zurück, als er es an der Brust anschob. Es iahte so dicht an seinem Ohr, dass ihm der Kopf dröhnte. Doch sie kamen ein paar Meter voran. Beim Ziehen blieben die schlaffen Arme des Hirten zurück, als seien sie am Boden festgenagelt. Die von der Mauer abgebröckelten Kalksteinplatten bohrten sich dem Alten in den Rücken wie ein hölzerner Dreschschlitten. Als der Mann aufstöhnte, legte der Junge das Ohr an seinen Mund, und zu seiner Beruhigung stellte er fest, dass er noch atmete, wenn auch unregelmäßig.
Geschwind lief er los, um die Eselsdecke zu holen, die jenseits der Mauer lag. Vergeblich versuchte er, sie dem Alten unter den Rücken zu schieben, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als die bis zum Schatten noch verbleibende Strecke von Steinchen zu säubern. Von der stechenden Sonne juckte ihm die Kopfhaut. Das Gesicht des Alten war sonnenverbrannt und aufgedunsen. Fliegen wie schwarze Zähne. Er hätte eine Verschnaufpause gebraucht, aber der Hirte konnte nicht warten. Auf allenvieren kriechend bereitete er eine Schneise im Staub. Säuberte sie von Steinen und Mörtelresten. Dann trieb er den Esel an. Doch schon beim ersten Ruck bäumte der wehrlose Alte sich auf. Sein Stöhnen unüberhörbar. Die in der Luft hängenden Füße am Seil straff gespannt, der Rücken über den Boden schrammend, und zum Schluss die Arme wie herrenlose Ruder. Ein
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