Die Flucht: Roman (German Edition)
Trauerzug.
Vor dem vermauerten Burgtor breitete der Junge die Decke aus, um den Alten darauf zu betten. An Armen und Beinen ziehend, versuchte er, es ihm so bequem zu machen wie möglich. Den Kopf des Hirten legte er auf einen unter die Decke geschobenen Stein, bereit zu hören, was er ihm zu sagen hatte.
Den Auftrag, eine Ziege zu melken, erfüllte er ihm dieses Mal mit ermutigendem Geschick. Im Nu brachte er ihm die bis zur Hälfte mit Milch gefüllte Blechbüchse. Mit den Fingern schob er ihm die Lippen auseinander und flößte ihm Schluck um Schluck die Milch ein. Als die erhobene Hand des Alten schließlich Einhalt gebot, setzte er sich die Büchse selbst an die Lippen und leerte sie in einem Zug.
Hinter dem Rücken des Alten versuchte er, in die Büchse zu urinieren, mit spärlichem Erfolg. Schon seit Tagen gab die Blase wenig her. Dennoch brachte er ein paar Fingerbreit konzentrierter, dunkelgelber Flüssigkeit mit starkem Ammoniakgeruch zustande. Damit kehrte er zu dem Alten zurück, um ihm die Wunden mit einem in Urin getränkten Stofffetzen seiner Hose zu reinigen. Bei jeder Berührung merkte er, wie der Alte zusammenzuckte,sah, wie unter seinen geschlossenen Lidern ein paar Tränen hervorquollen. Irgendwann packte der Alte den Jungen am Arm und bat um eine Verschnaufpause. Der Junge wartete, solange der Mann seinen Unterarm drückte. Sobald die Umklammerung nachließ, fuhr er mit der Behandlung fort, wie der Hirte ihn angewiesen hatte. Als er fertig war, wollte er sich erheben, doch die Hand des Alten gab seinen Arm nicht frei. Da stellte er die Büchse beiseite und streckte sich neben ihm aus. So schliefen sie ein.
7
E r schlug die Augen erst wieder auf, als der Schatten der Mauer seine scharfen Konturen verloren hatte und sich als länglicher Fleck zum leeren Horizont hin verflüchtigte. Der Alte lag wach neben ihm, die Hände über der Brust gefaltet, den Blick starr gen Himmel gerichtet, als suchte er einen Weg zwischen den Kragsteinen der über ihren Köpfen schwebenden Brustwehr hindurch. Der Junge richtete sich auf und blieb, verloren in die Ferne blickend, sitzen.
»Wie viele Ziegen sind noch da?«, fragte der Alte.
»Drei.«
»Der Bock zählt nicht?«
»Der ist verschwunden.«
Seufzend schloss der Hirte die Augen.
»Haben sie den auch aufgeschlitzt?«
»Ich weiß nicht. Hier sind nur tote Ziegen.«
»Schau genau nach.«
Der Junge stand auf und ließ den Blick über das vor ihm liegende Gelände schweifen. Mit dem Zeigefinger in der Luft zählte er die Kadaver.
»Sechs tote Ziegen. Hund und Bock sind weg.«
Der Alte meinte, früher oder später würde der Hund zurückkehren, wo immer er sich versteckt halte. Den Bock allerdings, so vermutete er, hätten sie an den Hörnern gepackt und mit sich fortgeschleppt. Vielleicht würde der Polizeiwachtmeister ihn schlachten, um mit dem Kopf seine Trophäensammlung zu ergänzen.
»Du musst so schnell wie möglich Wasser herbeischaffen.«
»Wenn Sie Durst haben, kann ich eine Ziege melken. Ich weiß jetzt, wie das geht.«
»Es sind die Tiere, die Wasser brauchen.«
Der Junge schnappte sich den Eimer. Einige Meter vor der Wasserstelle erspähte er mehrere Raben auf dem Brunnenrand. Als er dort ankam, verscheuchte er die Vögel mit der Hand und beugte sich über das Loch. Er vernahm ein Summen und befürchtete das Schlimmste. Das schräg einfallende Abendlicht drang kaum bis zum Grund vor, doch es reichte, um den enthaupteten Kadaver des Ziegenbocks zu erkennen, der mit aufgeschlitzten Gedärmen im Wasser schwamm. Sämtliche Fliegen der Gegend hatten sich zum Festschmaus versammelt. Sie gingen ein und aus wie Gäste bei einer großen Feier. Der Galgen über dem Brunnenrand übersät von schwarzen Punkten.
Es war schon fast dunkel, als er zur Mauer zurückkehrte. Er erzählte dem Alten, was er vorgefunden hatte, der vor Wut ächzte angesichts dessen, was ihnen drohte. Der Junge sah den Hirten niedergeschlagen wie noch nie.
»Keine Sorge. Wir finden bestimmt noch mehr Wasserstellen hier in der Gegend.«
»Nein. Es gibt keine.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich weiß es.«
»Dann gehen wir eben woandershin.«
»Ich kann nirgendwohin gehen.«
Der Junge verstummte. Wenn der Hirte sich nicht fortbewegen konnte, würde er Wasser besorgen müssen. Er dachte an die letzten Tage, den Sonnenstich, den Durst, die Nachtmärsche und bekam Angst, denn nur dank der Gegenwart des Hirten hatte er es geschafft zu überleben.
»Du wirst alleine
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