Die Flucht: Roman (German Edition)
Hirtenstab und die Schere zum Trimmen des Ziegenfells. Der Rosinenkorb geplündert, der Tabakbeutel umgestülpt. Die Wasserflaschen ausgeleert ohne Korken am Boden. Als der Junge sie aufhob und versuchte zu trinken, kam kaum mehr ein Tropfen heraus.
Er trug die Behälter an den Platz, an dem der Alte lag, und zeigte sie ihm mit der Öffnung nach unten. Ein Seufzer, Ausdruck der Verzweiflung oder Resignation, entfuhr dessen Lippen. Er schien seine Augen noch fester schließen zu wollen, zumal diese Situation den brennendenSchmerz auf seiner Haut verschärfte und zugleich seine Wut schürte. Bei all dem geballten Leid, dachte der Junge, halte ihn wohl nur seine geschwächte Verfassung davon ab, sich umzubringen.
»Melk eine Ziege!«
Er entschied sich gegen die Methode des Hirten, da er es für viel zu zeitaufwendig hielt, den Kübel mit den Stäben am Boden zu fixieren und der Ziege die Beine daran festzubinden. Seine Trinkbüchse fand er an der Stelle, an der er sie weggeworfen hatte, als er den Polizeiwachtmeister und seine Männer hatte kommen sehen. Mit einem Hemdzipfel wischte er sie aus und machte sich auf den Weg zu den Ziegen. Lautlos schlich er sich an eine heran, doch sobald das Tier ihn bemerkte, sprang es davon. Er nahm sich die nächste Geiß vor, aber auch die wich vor seinem Gefäß aus. Eine ganze Weile jagte er so den Tieren hinterher, ohne Erfolg. Schließlich kehrte er zu der Mauer zurück, um den Hirtenstab zu holen, bemüht, sich zu erinnern, wie der Alte ihn benutzt hatte. Don Quijote gleich klemmte er die Stange unter den Arm und hob das vordere Ende in Richtung der Tiere in die Luft. Der Stab wog schwerer als gedacht, und als er sich den Ziegen nähern wollte, geriet das Eisen bedenklich ins Schwanken und bohrte sich schließlich mit der Spitze in den Boden. Als Nächstes umklammerte er den Stab fest mit beiden Händen und pirschte sich von hinten an sein Opfer heran. Zur Attacke bereit, schob er dem Tier den Fanghaken zwischen die Beine, doch als hätte das Vieh es gerochen, nahm es erneut Reißaus. Nach zahlreichen weiteren gescheiterten Versuchen wurde er immer brutaler, hetztedie Ziegen, während er versuchte, sie mit dem Hirtenstab zu Fall zu bringen. Als er endlich eine Ziege am Boden hatte, warf er den Stab weg, stürzte sich auf sie und hielt sie so lange an den Hufen fest, bis er sie gebändigt hatte.
An einem der Hinterbeine schleifte er die Ziege zur Mauer. Rückwärts geriet das Tier ständig ins Stolpern und fiel alle paar Meter hin, doch der Junge zerrte sie weiter, als schleppte er einen Fellsack voller Kaninchen. Allein seine Fangversuche hatten ihn schon viel zu viel Zeit gekostet, und jetzt musste er die Ziege auch noch melken. Am liebsten wäre er gleich, nachdem der Hirte ihm den Auftrag erteilt hatte, mit dem sauberen Gefäß voller Milch hinter dem Turm wieder aufgetaucht. Hätte dem Alten bewiesen, dass er die gemeinsam verbrachten Tage genutzt hatte. Dass er ihn still beobachtet und sich einen Teil seiner Weisheit abgeschaut hatte. Unbewusst wünschte er sich, dass der Alte stolz auf ihn sei. Er fesselte der Ziege die Vorderbeine und band sie an einem Felsklotz fest. Dann stellte er ihr die Büchse unter das Euter und kniete sich hinter sie. Der erste Tritt traf ihn unter dem Brustbein und der zweite mitten auf die Wange. Die Wunde, die von der zu engen Schießscharte stammte, platzte wieder auf und fing heftig an zu bluten. Erschöpft ließ er sich hinterrücks fallen, unfähig, seine Lungen wieder aufzupumpen. Das Zwerchfell vom Schock wie gelähmt. Dann rappelte er sich jedoch wieder auf, rang keuchend, mit weit offenem Mund nach Luft. Bald hatte er sich so weit gefasst, dass er auf das Tier zugehen konnte, um ihm einen gehörigen Tritt in die Flanke zuverpassen. Die Ziege meckerte kurz auf und wandte sich gleich wieder der Nahrungssuche am Boden zu. Als der Junge sich an die Wange fasste, glitten seine Finger über einen freiliegenden, tauben Knochen. Er besah sich seine Hand, die leuchtend rot verschmiert war. Wie karamellisierte Jahrmarktsäpfel. Ehe er noch einen anderen Gedanken fassen konnte, fing sein Gesicht an zu pochen, und er erinnerte sich an die Zeit im Turm. Mit rußgeschwärzter Haut und vom brutalen Druck der Schießscharte wunden Wangen. Die Haare wie Putzwolle und der Geruch nach abgestandenem Rauch, den wieder loszuwerden er ein ganzes Leben brauchen würde.
Er hörte den Alten hinter der Mauer stöhnen und vergaß seine Verletzungen und
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