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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesus Carrasco
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losziehen müssen, um Wasser zu holen.«
    »Ich weiß nicht, wohin.«
    »Das werde ich dir sagen.«
    »Ich habe Angst.«
    »Du bist ein sehr tapferer Junge.«
    »Bin ich nicht.«
    »Du hast es bis hierher geschafft.«
    »Weil Sie bei mir waren.«
    »Weil du einen starken Willen hast.«
    Der Junge wusste keine Antwort.
    »Hast du den Heiligenschein der Christusfigur dort oben gesehen?«
    »Ja. Er hat drei Spitzen.«
    »Das sind Lichtstrahlen. Einer steht für die Erinnerung, der zweite für die Vernunft und der dritte für den Willen.«
    Der Junge blickte nach oben. In der Abenddämmerung zeichnete sich hoch über der Mauer die schwarze Gestalt ab, deren Gewand, Hände und Heiligenscheinman nur erahnen konnte. Für einen Moment vergaß er über die Erzählungen des Alten seine Sorgen.
    »Christus musste auch leiden.«
    »Ich will nicht länger leiden.«
    »Dann bleiben wir eben hier und verdursten. So musst du bald nicht mehr leiden.«
    Der Alte erzählte ihm, Richtung Norden gebe es ein Dorf mit einem Brunnen. Über die Entfernung war er sich nicht ganz sicher, doch es würde wohl einige Stunden dauern, dorthin zu gelangen. Er sagte ihm, er müsse sich so bald wie möglich mit dem Esel auf den Weg machen, aber bevor er aufbreche, habe er noch einiges auf dem Burggelände zu erledigen.
    Als Erstes bat er ihn, den Kadaver einer braunen Ziege zu ihm an die Mauer zu bringen. Dann trug er ihm auf, den anderen toten Tieren die Glocken abzunehmen und ihre Kadaver so weit wie möglich von der Burg fortzuschaffen.
    Bis zum späten Abend schleppte er tote Tiere über die Steine. Alle naselang machte er Halt, fuhr sich mit dem Handrücken über die Wangen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Nach mehr als einem Tag in der prallen Sonne hatten die Eingeweide bereits einen Gärzustand erreicht, der die Leiber der geköpften Tiere auftrieb. Verwesungsgase in den brodelnden Gedärmen. Geier und Raben, die sich bald in Scharen einfinden würden, wären kilometerweit zu sehen. Eine fliegende Spirale, ein lärmender Schwarm schwarzen Gefieders über der staubigen Erde. Einen Moment lang erwog der Junge,die Kadaver zu verbrennen, um Aasfressern und Krankheitserregern keine Chance zu geben, doch der Feuerschein wäre mitten in der Nacht weithin sichtbar. Mit etwas Glück würde der Polizeiwachtmeister ihn jetzt nach den Folterqualen im Turm für tot halten. Nachdem sie den Ziegenhirten so übel zugerichtet hatten, würde ein Haufen brennender Ziegen seinen Häschern verraten, dass er noch am Leben war.
    Als er die toten Tiere aufgeschichtet hatte, kehrte er zur Burg zurück und ließ sich neben dem Alten nieder. Eine Weile sprach keiner ein Wort. Der Alte in seine Schmerzen vertieft, der Junge völlig verausgabt von der Anstrengung. Beinahe wäre er eingenickt, als er plötzlich die Hand des Hirten auf seinem Unterarm spürte.
    Den präzisen Instruktionen des Hirten folgend schliff er das alte Messer aus gehämmertem Stahl – ein Werkzeug mit abgerundeter Spitze, einer Kerbe am Messerkopf und einem mit Hanf umwickelten Griff. Er wetzte den Stahl an einem Stein, bis er ihm eine silbern glänzende Schneide abgerungen hatte. Anschließend legte er die braune Ziege rücklings auf den Boden, hielt ihren Kopf mit den Knien fest, setzte ihr das Messer an die durchgeschnittene Kehle und schlitzte ihr den Bauch bis zum Euter auf. Daheim hatte er seine Mutter Hasen und Kaninchen ausweiden sehen. Er selbst hatte schon Wachteln den Hals umgedreht, doch das hier war nicht vergleichbar. Ein Tier völlig anderen Kalibers, dem eine solche Menge dunkelrotes Gekröse aus dem Bauch quoll, dass er es nicht einmal mit beiden Händen umfassen konnte. Erneut stach er das Messer hinein, um den aufgedunsenenUnterleib aufzuschlitzen. Obwohl die Klinge grob war, glitt sie durchs Bindegewebe wie durch warme Butter. Der Gestank, den er auf diese Weise freisetzte, durchfuhr ihn schmerzlich und prägte sich ihm unwiderruflich ins Gedächtnis ein. Als er den Blick abwandte, traf er auf den des Hirten, der ihn von seinem Lager aus still beobachtete. Er fühlte sich von den Augen des Hirten geleitet. Seine ungeschickten Hände waren die des Alten.
    Der erste stinkende Schwall verflüchtigte sich. Vor ihm eine ausufernde Lache voller schillernder Rottöne, weißlicher Gewebeteile, wulstiger Gebilde, die sich in allen Richtungen wanden und schlängelten. Der Alte erwartete von ihm, dass er das Tier ausnahm und dann zerteilte, so wie er es vorher mit dem Hasen und

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