Die Flucht: Roman (German Edition)
wollten in die Stadt ziehen, um dort Arbeit zu finden, und sobald sie sich eingerichtet hätten, würden sie ihn mit einem Schubkarren nachholen. »Das ist jetzt schon ein Jahr her«, gestand er ihm. Später, derweil ihm der Mann von Maultiertreibern, Wollhändlern und Ziegenkäseverkäufern berichtete, nickte der Junge über der Tischplatte ein.
Er träumt, dass er verfolgt wird. Der immer gleiche Traum. Er flieht vor jemandem, den er nie sieht, aber dessen heißen Atem er im Nacken spürt. Jemand, dessen Schritte sich beschleunigen, wenn er rennt, und der stehenbleibt, sobald er innehält. Er ist weder jemals aus seinemDorf herausgekommen noch hat er je irgendwelche Bilder einer anderen Stadt gesehen. Aber jetzt, im Traum, läuft er durch nasse Pflasterstraßen einer ihm unbekannten Stadt. Verlassene, regennasse Straßen mit Laternen, deren Lichter reflektieren und die Pflastersteine lackieren, sodass sie wie polierte Kohle wirken. Er biegt um Ecken und rennt durch immer engere und dunklere Gassen. Ihm dicht auf den Fersen die Schritte seines Verfolgers. Er flüchtet in ein Haus, durchquert Flure im gelblichen Schein stetig schwächer werdender Gasleuchten. Die klebrig-schwüle Luft fängt sich in seiner Kleidung und verlangsamt sein Tempo. Den Atem ständig im Nacken. Er kommt in einen Raum, nur durch eine Lichtquelle jenseits der Fenster erhellt. Er öffnet Türen, durch die er in immer kleinere Räume mit von Mal zu Mal tieferen Decken gelangt. Zum Schluss liegt er bäuchlings auf den Holzdielen am Boden, der vor Feuchtigkeit und Ungeziefer strotzt. Die Zimmerdecke hängt so tief, dass er mit dem Rücken daran anstößt. Die Luft wie Schienenschmiere. Reglos gefangen und mit dem Gefühl, mehr und mehr in der Erde zu versinken. Dann ein paar Sekunden bei Bewusstsein in der Enge seines Sargs, und schließlich ein Aufbäumen, wobei sein Kopf gegen die Tischplatte prallt.
Er wachte allein auf, das linke Handgelenk an die einzige Säule im Raum gekettet. Auf seiner Stirn klaffte eine kleine Wunde. Ihm brummte der Schädel, und der Magen schmerzte ihm. Sein Darm meldete sich, doch er konnte sich nicht weiter als einen Meter von der Säuleentfernen. Die Fenster waren wieder geschlossen, nur ein paar Lichtpunkte sickerten durch die Rhomben in der Mitte der Fensterläden. Er versuchte, seine Hand freizubekommen, aber die Fessel saß zu fest. Wenn er den Arm so weit wie möglich streckte, gelangte er mit der Fußspitze knapp bis ans Fenster. Bei dieser Verrenkung musste er aufstoßen, wobei ihm die Säure von der Mahlzeit in die Kehle stieg und einen gallebitteren Geschmack im Mund hinterließ. Mit der Stiefelspitze berührte er den Fensterflügel, aber es reichte nicht, um das Fenster aufzustoßen. Er tastete seine Umgebung nach einem brauchbaren Gegenstand ab. In seiner Reichweite befand sich allerdings nur der Korbstuhl, auf dem er saß. Mit der freien Hand hob er ihn an, um zu sehen, ob er mit ihm ans Fenster gelangte, doch er wog zu schwer für ein derart umständliches Manöver. Schließlich schob er die Hand zwischen den Lamellen der Rückenlehne hindurch, und indem er den Stuhl mit dem Unterarm abstützte, schaffte er es, ihn bis über den Kopf hochzuwuchten. Mit geschlossenen Augen schleuderte er ihn gegen den Tisch. Der Stuhl zerschellte Stück für Stück. Immer weiter schlug er zu, bis er nur noch zwei Lamellen der Rücklehne und das daran hängende gedrechselte Stuhlbein in der Hand hielt. Damit tastete er sich bis ans geschlossene Fenster vor, schlug die Scheibe ein und stieß die Läden nach außen auf. Das einfallende Licht war nicht mehr so grell wie am Morgen, als der Krüppel die Fenster geöffnet hatte, aber es reichte, um den Raum aufzuhellen.
Als Erstes entdeckte er, dass der Esel nicht mehr draußen angebunden stand. Und erst jetzt bemerkte er dasSchloss an seiner Handschelle. Mit aller Wucht schlug er es gegen den Tisch, dann auf den Boden, doch nichts tat sich. Er suchte in seiner Umgebung nach etwas Brauchbarem, fand aber nichts als Lebensmittel und Getränke. Auf seinem Marsch durch die endlose Einöde hatte er sich nur von Mandeln und Ziegenmilch ernähren müssen, und nun, da er von all diesen Köstlichkeiten umgeben war, konnte er sich nicht rühren.
Er rekapitulierte, in welcher Lage er sich befand: Er war angekettet, und der Krüppel und der Esel waren verschwunden. Obwohl der Krüppel wahrscheinlich als Einziger weit und breit Vorräte für ein ganzes Jahr gehortet hatte, war er
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