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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesus Carrasco
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der er ihn zurückgelassen hatte. Wahllos zerkaute er abgefallene Eichenblattknospen vom letzten Frühjahr oder winzige, knackende Zweige. Der Junge band ihn los, stieg auf, und langsam trotteten sie davon. Tagelang der unerbittlichen Hitze ausgesetzt, eine Nacht über mit dem Kopf in der Schießscharte eingeklemmt und die darauffolgende ohne Schlaf auf der Suche nach diesem halb verseuchten Brunnen. Dass er ihn jetzt gefunden hatte, und noch dazu, ohne sich gegen die Dorfbewohner zur Wehr setzen zu müssen, um sich zu bedienen, ließ so sehr die Anspannung von dem Jungen abfallen, dass er, als sieins Dorf einzogen, schlafend, die Arme um den Hals des Esels geschlungen, über dem Sattelgestell hing, das sich ihm in den Magen bohrte. Wie ein Hellseher trottete der Esel durch die sandigen Gassen bis zu dem Platz, an dem sich unter dem umgekippten Tontopf eine Lache gebildet hatte. Dort angekommen blieb der Esel stehen und senkte den Kopf, um am feuchten Lehmboden zu lecken. Dadurch geriet der Junge aus dem Gleichgewicht, doch bevor er herunterfiel, erwachte er. Er richtete sich im Sattel auf, streckte die Fäuste zum Himmel und verspürte, als er sie öffnete, ein Grummeln in der Gegend des Solarplexus. Er stieg ab und ließ als Erstes den Topf in den Brunnen hinab, um dem Esel zu trinken zu geben. Kaum hatte er ihm das Gefäß vor die Nase gesetzt, steckte das Tier sein Maul in die runde Öffnung und leckte das Wasser so lange auf, bis die Zunge nicht mehr tief genug reichte. Während das Tier trank, erwog der Junge, die Flaschen abzunehmen, zu füllen und anschließend wieder quer über den Sattel zu hängen. Die mit Bast umwickelten Gefäße ähnelten den ihm vertrauten Weinflaschen, woraus er schloss, dass jede mindestens zwanzig Liter fassen müsse. Wohl wissend, dass sie zu schwer für ihn waren, verwarf er die Idee, sie abzuladen, und beschloss, sie hängen zu lassen und nach und nach aufzufüllen. Die nächste Stunde verbrachte er damit, Wasser aus dem Brunnen zu ziehen und es abwechselnd in beide Flaschen zu gießen, um zu verhindern, dass die Ladung infolge des Ungleichgewichts abrutschte. Als er die Behälter zur Hälfte gefüllt zu haben glaubte, entschied er, sich erst einmal hinzusetzen und zu verschnaufen. Aufder Suche nach dem schattigsten Plätzchen ging er um den Brunnenrand herum, aber die Sonne stand hoch, und die Steinmauer beschattete nur einen schmalen Streifen. Er hätte sich in eines der Häuser zurückziehen können, was er angesichts des katastrophalen Zustands der meisten Zimmerdecken jedoch nicht in Betracht zog. Er wollte es lieber halten wie auf dem Marsch zum Röhrichtfeld, ging den Esel holen und führte ihn an einen Platz nahe am Brunnenrand, damit er ihm als Sonnenschutz diente. Dort ließ er sich an die Steinmauer gelehnt nieder, das Seilende fest in der Hand, damit der Esel sich nicht von der Stelle rührte, und nickte ein.
    Als er erwachte, glühte er und seine Füße fühlten sich feucht an. Er schlug die Augen auf und sah, dass sie unter einem Haufen Eselsdung begraben waren, umgeben von Resten einer Urinpfütze. Das Tier stand ein paar Meter weiter, seelenruhig mit der Quaste am Schwanz Fliegen verscheuchend. Er wusste nicht, wie lange er schon so in der Sonne gehockt hatte, und dachte an die Umschläge des Ziegenhirten und den ihm den Mund leckenden Hund. Hastig sprang er auf, und sofort wurde ihm schwindelig. Er musste sich am Brunnenrand festhalten, um nicht umzukippen, und während er wieder zu sich kam, packte ihn plötzlich der Hass auf dieses Tier, das ihm selbst das bisschen Schatten verwehrt hatte. In zwei Sätzen war er bei dem Esel und verpasste ihm einen Fausthieb mitten auf die Stirn. Während das Tier lediglich den Kopf schüttelte, durchzog ihn ein krampfartiger Schmerz von den Fingerknöcheln bis in den Schädel. Er schrie zwischen den halb verfallenen Häusern, schrie undschrie, weit über den Schmerz in seinen Knochen hinaus. Ein Klagegeheul, das ihn derart erschöpfte, dass er mitten auf dem staubigen Platz auf die Knie sank.
    »Du wirkst nicht sehr glücklich, Junge.«
    Wie eine Katze sprang er auf, weg von der Stimme, die hinter ihm ertönt war, rannte los, ohne sich umzuschauen, umrundete den Brunnen und warf sich hinter ihm zu Boden. Dort rührte er sich nicht mehr vom Fleck, versuchte Zeit zu gewinnen, horchte auf die Bewegungen des Mannes, zu dem die Stimme gehörte. Ein paar Sekunden lang vernahm er nur das Gurren der Tauben im Gebälk und auf den

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